Das Geheimnis des weißen Bandes
entschlossen sein, denn sie werden – das kann ich Ihnen versprechen – bestimmt nicht vergessen, was wir heute Nacht aufdecken werden.«
»Wir gehen mit Ihnen, Holmes«, erklärte Lestrade. »Bringen wir’s hinter uns.«
Holmes hatte meinen Revolver. Ich hatte es gar nicht bemerkt, dass er ihn aufgehoben hatte. Aber jetzt drückte er ihn mir in die Hand und sah mir dabei fest in die Augen. Ich wusste, was er von mir wollte. Ich nickte, und dann machten wir uns auf den Weg.
19
Das House of Silk
Wir kehrten zurück zur höchsten Stelle des Hamworth Hill, zur Chorley Grange School für Jungen. Wohin hätten wir sonst gehen sollen? Es war ja offensichtlich, dass der Reklamezettel hierher gekommen war, dass ihn jemand unter die Matratze des Bettes gelegt hatte, in dem Ross geschlafen hatte. Jemand, der wusste, dass ihn der Schuldirektor zu mir bringen würde, jemand, der uns in die Falle von Dr. Silkin’s Jahrmarkt locken wollte.
Natürlich war es auch möglich, dass uns der Reverend Fitzsimmons getäuscht hatte und selbst ein Teil der Verschwörung war. Das hielt ich aber selbst jetzt noch für unwahrscheinlich, denn er schien mir mit seinem Pflichtgefühl, seiner Besorgnis um das Wohlergehen der Kinder und seiner fleißigen, strengen Frau als ein Muster von Anstand und Rechtschaffenheit. Außerdem hatte ihn der Tod des kleinen Ross ehrlich erschüttert. Es war schwer, sich vorzustellen, dass das alles nur Maskerade und Täuschung gewesen sein sollte. Wenn er in irgendetwas Dunkles und Böses hineingezogen worden war, dann hatte er nichts davon gewusst oder es zumindest missbilligt. Dessen war ich mir ganz sicher.
Lestrade hatte zehn Mann in vier Kutschen mitgebracht, die eine nach der anderen leise die scheinbar endlose Steigung am nördlichen Stadtrand von London hinauffuhren. Holmes, Lestrade und ich hatten unsere Revolver, aber der Rest der Männer war unbewaffnet, so dass wir bei einer etwaigen gewaltsamen Auseinandersetzung ganz auf das Überraschungsmoment setzen mussten. Holmes gab das Signal, und die vier Kutschen hielten kurz vor unserem Ziel an.
Wir nahmen unsere Position hinter einer kleinen Baumgruppe ein, wo wir von der Schule aus nicht gesehen werden konnten. Unser eigentliches Ziel war aber gar nicht die Schule, wie ich gedacht hatte, sondern das Gebäude gegenüber, auf der anderen Seite der Straße, die ehemalige Stellmacherei. Fitzsimmons hatte uns gesagt, dass dort Konzerte stattfänden, und zumindest in diesem Punkt schien er die Wahrheit gesagt zu haben, denn es standen mehrere Kutschen davor, und aus dem Inneren hörte man ein Klavier.
Es war inzwischen halb neun, und es hatte tatsächlich zu schneien begonnen. Dünne weiße Schneekristalle segelten aus dem Nachthimmel auf uns herab. Der Boden war schon weiß, und es war hier oben wesentlich kälter als in der Stadt. Ich hatte immer noch erhebliche Schmerzen von dem Schlag auf den Arm, den ich auf dem Jahrmarkt erhalten hatte, und meine alte Kriegsverletzung pochte gleich mit. Außerdem spürte ich in mir ein leichtes Fieber heraufziehen. Aber ich war entschlossen, das die anderen nicht merken zu lassen. Nachdem ich so weit gekommen war, wollte ich auch das Ende sehen. Holmes schien auf etwas zu warten, und ich hatte unbegrenztes Vertrauen in seine Urteilskraft, auch wenn wir die ganze Nacht hier im Freien stehen mussten.
Lestrade muss gespürt haben, dass es mir schlecht ging, denn er gab mir einen Schubs mit dem Ellenbogen und reichte mir eine flache, silberne Schnapsflasche. Ich hob sie an die Lippen und trank einen kräftigen Schluck, ehe ich sie dem kleinen Detektiv zurückgab. Er wischte sie am Ärmel ab, trank dann selbst etwas und steckte sie wieder weg.
»Was haben Sie vor, Mr. Holmes?«, fragte er.
»Wenn Sie diese Leute in flagranti erwischen wollen, Lestrade, müssen wir herausfinden, wie wir ins Haus kommen, ohne dass es Alarm gibt.«
»Sie wollen ein Konzert stürmen?«
»Das ist kein Konzert.«
Ich hörte das gedämpfte Rattern und Rumpeln einer weiteren Kutsche, die den Berg heraufkam, gezogen von zwei schönen grauen Stuten. Der Kutscher benutzte die Peitsche, denn die Straße war steil und inzwischen auch ziemlich rutschig. Ich sah, wie die Räder im Schlamm und Schnee mahlten. Ich warf Holmes einen Blick zu. Sein Gesichtsausdruck hatte sich stark verändert. Ich sah eine kalte Befriedigung in seinen Zügen, das Gefühl, am Ende recht behalten zu haben und sich jetzt endlich rächen zu können. Seine Augen
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