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Das Geheimnis des weißen Bandes

Das Geheimnis des weißen Bandes

Titel: Das Geheimnis des weißen Bandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anthony Horowitz
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leuchteten, aber seine Wangenknochen warfen tiefe Schatten, und mir schoss der Gedanke durch den Kopf, dass selbst der Todesengel nicht so bedrohlich aussehen würde, wenn wir ihm schließlich begegneten.
    »Sehen Sie, Watson?«, flüsterte er.
    Hinter den Bäumen versteckt, waren wir von der Straße aus nicht zu sehen, konnten aber die beiden Gebäude und die Einfahrten gut überblicken. Holmes zeigte auf die Kutsche, die jetzt an uns vorbeifuhr. Im Mondlicht sah ich, dass die Tür des Fahrzeugs mit einem goldenen Wappen verziert war: ein Rabe mit gekreuzten Schlüsseln. Sofort erinnerte ich mich an Lord Ravenshaw, diesen arroganten Kerl mit den geschwollenen Augen, dem wir die gestohlene goldene Uhr zurückgebracht hatten. Was hatte er mit dieser Geschichte zu tun?
    Die Kutsche bog in die Einfahrt der alten Fabrik und hielt an. Lord Ravenshaw stieg aus, auch aus dieser Entfernung gut zu erkennen. Er trug einen schwarzen Umhang und einen Zylinder. Er ging zum Eingang und klopfte. Eine unsichtbare Hand öffnete, und als das gelbliche Licht aus dem Inneren fiel,sah ich, dass etwas an seiner Hand baumelte. Es hätte ein langer Papierstreifen sein können, aber das war es natürlich nicht. Es war ein Band aus weißer Seide.
    Der Neuankömmling wurde eingelassen. Die Tür schloss sich wieder.
    »Genau wie ich dachte«, sagte Holmes. »Sind Sie bereit, Watson? Ich muss Sie allerdings warnen: Was Sie auf der anderen Seite dieser Tür sehen werden, wird Sie wahrscheinlich sehr unglücklich machen. Es war ein interessanter Fall, aber ich fürchte schon lange, dass die Indizien nur einen einzigen Schluss zulassen. Nun, es hilft nichts. Wir dürfen nicht die Augen verschließen vor dem, was da drinnen geschieht. Ist Ihr Revolver geladen? Ein einziger Schuss, Lestrade. Das ist das Signal für Sie und Ihre Männer, uns in das Gebäude zu folgen.«
    »Ganz wie Sie sagen, Mr. Holmes.«
    Wir verließen den Schutz der Bäume und überquerten die Straße. Der frisch gefallene Schnee knirschte schon unter den Füßen. Dann ragte das Haus vor uns auf. Die Fenster waren mit dichten Vorhängen verhängt und schimmerten nur matt in der Dunkelheit. Ich hörte immer noch das Klavier, aber was da gespielt wurde, klang nicht nach einem Konzert – jemand spielte eine irische Ballade, wie man sie nur in den billigsten Kneipen hört. Wir gingen an den aufgereihten Kutschen vorbei, die auf ihre Besitzer warteten, und erreichten den Eingang. Holmes klopfte.
    Die Tür wurde von einem jungen Mann mit dicht anliegendem schwarzem Haar und geschwungenen Augenbrauen geöffnet, den ich noch nie gesehen hatte. Seine Haltung war ebenso ehrerbietig wie hochnäsig. Er trug eine Uniformjacke mit Litzen und Messingknöpfen, eine Bundhose, Knöpfstiefel und eine lavendelfarbene Weste, die genau zu seinen Handschuhen passte.
    »Ja, bitte?« Der Türsteher hatte uns nicht erkannt und war misstrauisch.
    »Wir sind gute Freunde von Lord Horace Blackwater«, sagte Holmes. Ich war verblüfft, dass er ausgerechnet den Mann als Empfehlung nannte, der vor Gericht als Zeuge gegen ihn aufgetreten war.
    »Er hat Sie zu uns geschickt?«
    »Er hat Sie sehr empfohlen.«
    »Und Ihre Namen, bitte?«
    »Parsons. Und das ist ein Kollege von mir, Mr. Smith.«
    »Hat Ihnen Sir Horace irgendein Zeichen gegeben, mit dem Sie sich ausweisen können? Normalerweise lassen wir mitten in der Nacht keine Fremden herein.«
    »Ja, natürlich. Er hat gesagt, ich soll Ihnen das hier geben.« Holmes griff in die Tasche und zog ein weißes Seidenband heraus. Er hielt es einen Augenblick hoch, dann überreichte er es dem Türsteher.
    Die Wirkung war eindeutig. Der junge Mann verbeugte sich, machte die Tür etwas weiter auf als zuvor und bat uns mit einer Handbewegung herein. »Treten Sie ein!«, sagte er.
    Wir gelangten in eine kleine Eingangshalle, die mich sehr überraschte. Ich erinnerte mich noch deutlich an das karge und düstere Innere der Schule auf der anderen Seite der Straße und hatte hier das Gleiche erwartet. Aber ganz das Gegenteil war der Fall: Wir waren umgeben von Helligkeit, Wärme und Luxus. Ein Flur mit schwarz-weißen Fliesen im holländischen Stil führte tiefer ins Innere. Elegante kleine Mahagoni-Tische mit geschwungenen, kannelierten Beinen standen zwischen den zahlreichen Türen. Die Gaslampen brannten in vornehmen Leuchtern und waren so weit hochgedreht, dass sie ein helles Licht auf die vielen Schätze des Hauses warfen. Geschliffene Rokoko-Spiegel mit verschnörkelten

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