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Das Geheimnis des weißen Bandes

Das Geheimnis des weißen Bandes

Titel: Das Geheimnis des weißen Bandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anthony Horowitz
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bärtigen Mann, der nur ein offenes weißes Hemd trug, und den Jungen, der vor ihm auf dem Bett lag.
    Es konnte nicht wahr sein. Ich wollte es nicht glauben. Aber ich konnte nicht leugnen, was ich mit eigenen Augen sah. Das House of Silk – das war sein Geheimnis. Es war ein Bordell, nicht mehr und nicht weniger; ein Lustschloss für Männer mit einem perversen Bedürfnis und genügend Geld, um es hier zu befriedigen. Diese Männer hatten ein Faible für kleine Kinder, und ihre Opfer waren die unglücklichen Straßenjungen, die ich in der Schule gegenüber gesehen hatte. Kinder, die keine Familien und Freunde hatten, die sich um sie kümmerten, keine Unterkunft und kein Essen. Kinder, die von der Gesellschaft kaltherzig ignoriert wurden, weil sie den Leuten nur lästig waren. Ahnungslose Gerichte, Polizisten und wohlmeinende Bürger hatten zusammengewirkt, um sie hierherzubringen. Man hatte sie bestochen oder mit Gewalt gezwungen, sich dieses Leben gefallen zu lassen, man hatte sie mit Folter und Tod bedroht, wenn sie nicht gehorchten. Ross war eine Zeitlang einer von ihnen gewesen. Kein Wunder, dass er weggelaufen war. Und dass mich seine Schwester mit dem Messer angegriffen hatte, weil sie dachte, ich wollte ihn hierher zurückholen, war auch nicht erstaunlich. In was für einem Land lebte ich bloß? Wie konnte es seine Kinder so schmählich im Stich lassen? Diese Jungen konnten krank werden, sterben, verhungern – und Schlimmeres. Aber allen war es egal.
    All diese Gedanken rasten durch mein Gehirn, als wir da standen. Dann bemerkte der Mann uns. »Was zum Teufel tun Sie hier?«, brüllte er.
    Holmes schloss die Tür wieder. Im gleichen Augenblick hörte man von unten jemanden rufen. Offenbar hatte der Hausherr bemerkt, dass wir aus dem Salon verschwunden waren. Das Klavierspiel brach ab. Ich fragte mich, was wir jetzt tun sollten.
    Aber die Entscheidung wurde uns abgenommen. Vor uns ging eine weitere Tür auf, und ein Mann trat auf den Korridor. Er war bekleidet, aber das Hemd hing ihm aus der Hose und die Haare standen ihm wirr vom Kopf. Diesen Besucher erkannte ich auf den ersten Blick. Es war Inspektor Harriman.
    Er sah uns. »Sie!«, schrie er und hob die Hand.
    Ohne nachzudenken, zog ich meinen Revolver und schoss. Ich wollte Lestrade und seine Männer herbeirufen. Aber ich schoss nicht etwa in die Luft, sondern zielte auf Harriman. In mörderischer Absicht drückte ich auf den Abzug, mit einer rasenden Wut, wie ich sie nie zuvor gefühlt hatte und auch seitdem nie wieder erlebt habe. Zum ersten und einzigen Mal im Leben hatte ich das Bedürfnis, einen Menschen zu töten.
    Die Kugel verfehlte ihn. In letzter Sekunde musste Holmes gespürt haben, was ich tun wollte. Er stieß einen Schrei aus und meine Hand beiseite. Die Kugel zerschlug eins der Gaslichter. Harriman duckte sich, rannte davon und verschwand über eine zweite Treppe am anderen Ende des Flurs. Der Schuss hatte dasganze Haus alarmiert. Immer mehr Türen öffneten sich, und überall taumelten Männer mittleren Alters heraus. Ihre Gesichter waren voller Entsetzen und Panik, so als hätten sie schon seit Jahren geahnt, dass ihre Sünden früher oder später ans Licht kommen würden, und wären doch überrascht, dass es gerade heute und auf diese Weise geschah.
    Dann hörte man unten Holz splittern, als die Polizisten die Haustür aufbrachen. Ich hörte Lestrade etwas rufen, dann folgte ein zweiter Schuss. Jemand schrie.
    Holmes war schon auf dem Vormarsch und stieß jeden beiseite, der ihm in den Weg geriet. Er war hinter Harriman her, der zu wissen schien, dass wir ihn jagten. Es erschien unwahrscheinlich, dass der Detektiv entkommen würde. Lestrade und seine Männer waren ja überall. Aber es war nur allzu deutlich, was Holmes befürchtete; denn er hatte bereits die Treppe erreicht und stürmte nach unten. Ich folgte, und gemeinsam kamen wir auf dem unteren Flur mit den schwarz-weißen Fliesen an. Hier herrschte völliges Chaos. Die Eingangstür stand offen, ein eisiger Wind wehte herein und die Gaslampen flackerten. Lestrades Männer hatten bereits mit ihrer Arbeit begonnen. Lord Ravenshaw, jetzt in einer weichen Samtjacke, kam aus einem der Räume, in der Hand eine schwere Zigarre. Er wurde von einem Beamten gepackt und an die Wand gedrückt.
    »Nehmen Sie Ihre Hände weg!«, brüllte er. »Wissen Sie nicht, wer ich bin?«
    Es war ihm offenbar noch nicht klar, dass bald das ganze Land wissen würde, wer und was er war, und dass sein Name

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