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Das Geheimnis des weißen Bandes

Das Geheimnis des weißen Bandes

Titel: Das Geheimnis des weißen Bandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anthony Horowitz
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schienen immer lauter zu werden, die Räder drehten sich rasend, die Karosserie seiner Kutsche schwankte so heftig, dass man meinte, sie müsse jeden Augenblick auseinanderbrechen.
    Harriman hatte uns jetzt bemerkt. Ich sah, wie er zu uns zurückblickte, sein weißes Haar stand ihm wie ein verrückter Heiligenschein um den Kopf. Er schien nach etwas zu greifen, und ich bemerkte zu spät, was es war. Ein kleiner roter Blitz zuckte auf, ein Revolverschuss, der im Getöse der Verfolgungsjagd beinahe unterging. Ich hörte, wie die Kugel in unsere Kutsche schlug. Sie hatte Holmes nur um Zentimeter verfehlt und war direkt vor mir ins Holz gedrungen. Je näher wir kamen, desto einfacher würde es sein, uns zu treffen. Und doch flogen wir weiter die Straße hinunter.
    Jetzt tauchten die Lichter eines Dorfes auf, das musste Roxeth sein. Harriman schoss erneut. Unser Pferd schrie und strauchelte. Die ganze Kutsche flog in die Luft und fiel krachend wieder zu Boden. Mein Rückgrat wurde gestaucht, und meine Schulter brannte wie Feuer. Zum Glück hatte das Tier aber wohl nur einen Streifschuss erlitten und war nicht getötet worden. Es raffte sich auf und erschien noch entschlossener als zuvor. Holmes stieß einen stummen Schrei aus. Dreißig Meter, jetzt nur noch zwanzig. In wenigen Sekunden würden wir Harriman überholen.
    Aber plötzlich zerrte Holmes an den Zügeln, und ich saheine Kurve vor uns – die Straße bog scharf nach links weg, und wenn wir mit diesem Tempo in die Kurve gingen, würde es mit Sicherheit unser Tod sein. Die Kutsche schlitterte über die Straße, Eis und Schlamm spritzten unter den Rädern zur Seite. Ich packte noch heftiger in das Gestänge, um nicht vom Trittbrett heruntergeschleudert zu werden. Der Wind schlug mich mit eisigen Fäusten, und die ganze Welt war nur noch ein Rauschen und Flimmern. Ich rechnete damit, jeden Augenblick auf den Boden zu schlagen.
    Plötzlich ertönte vor uns ein scharfes Krachen, aber es war nicht die dritte Kugel, sondern das Splittern und Brechen von Holz. Ich machte gerade rechtzeitig die Augen auf, um zu sehen, dass Harrimans Coupé die Kurve zu schnell genommen hatte. Es balancierte einen Augenblick auf zwei Rädern. Harriman wurde in die Luft geschleudert und schien einen Augenblick an den Zügeln zu hängen. Dann brach die Achse, und das Fahrzeug fiel um. Harriman schien darunter begraben zu werden. Das Gespann rannte weiter, aber die Deichsel war abgerissen und die Pferde verschwanden im Dunkel. Die schwere Kutsche rutschte noch ein paar Meter weiter, und einen Augenblick lang sah es so aus, als ob wir direkt in das Wrack prallen würden. Aber Holmes hatte die Zügel immer noch fest in der Hand. Er lenkte unseren Braunen geschickt um das havarierte Fahrzeug herum und brachte ihn schließlich zum Stehen.
    Unser Brauner stand keuchend neben der Straße. Von seiner Flanke tropfte Blut in den Schnee, und ich hatte das Gefühl, als hätte man mir alle Knochen im Leibe gebrochen. Ich hatte keinen Mantel an und zitterte vor Kälte.
    »Nun, Watson«, keuchte Holmes mit belegter Stimme. »Glauben Sie, ich habe eine Zukunft als Droschkenkutscher?«
    »Das kann schon sein«, sagte ich. »Aber erwarten Sie bloß keine Trinkgelder.«
    »Lassen Sie uns mal sehen, was wir für Harriman tun können.«
    Wir stiegen langsam von unserer kleinen Kutsche herunter, aber ein einziger Blick genügte mir, um zu sehen, dass die Jagd in jedem Sinne vorbei war. Harrimans Hals war so verdreht, dass er zwar mit beiden Händen flach auf der Straße lag, aber seine erloschenen Augen blind in den Nachthimmel starrten. Sein Gesicht war von einer schrecklichen Schmerzgrimasse entstellt. Holmes warf ihm nur einen einzigen Blick zu und nickte: »Ich fürchte, das hat er verdient.«
    »Er war ein böser Mensch, Holmes. Das alles sind böse Menschen.«
    »Sie sagen es, Watson. Können Sie es ertragen, noch einmal nach Chorley Grange zurückzukehren?«
    »Diese Kinder, Holmes. Diese armen Kinder.«
    »Ich weiß. Aber Lestrade sollte die Situation mittlerweile unter Kontrolle gebracht haben. Lassen Sie uns sehen, was wir noch tun können.«
    Unser Pferd war jetzt voller Empörung und Ablehnung, seine Nüstern dampften heiß in die Nacht. Nur mit Mühe gelang es uns, die Kutsche zu wenden und langsam den Hügel wieder hinaufzufahren. Ich war erstaunt, wie weit wir gekommen waren. Die Fahrt nach unten hatte nur wenige Minuten gedauert, aber wir brauchten mehr als eine halbe Stunde, um wieder

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