Das Geheimnis des weißen Bandes
Oldmore’s Private Hotel gefunden haben. Es kann sein, dass Sie denken, diese Dinge seien jetzt nicht mehr wichtig, deshalb will ich Ihnen eines ganz klar sagen: Wenn Sie wollen, dass Ihre Schwester stirbt, dann schicken Sie mich jetzt weg! Sollte das nicht der Fall sein, empfehle ich Ihnen, mich und Dr. Watson einzulassen und sich anzuhören, was ich Ihnen zu sagen habe.«
Carstairs zögerte, und ich sah, wie er mit sich kämpfte und dass er in gewisser Weise geradezu Angst vor uns zu haben schien. Aber dann siegte doch seine Vernunft. »Bitte«, sagte er. »Darf ich Ihnen die Mäntel abnehmen? Ich weiß nicht, wo Kirby sich herumtreibt. Manchmal habe ich das Gefühl, der gesamte Haushalt ist in Auflösung begriffen.« Wir legten ab, und er wies in Richtung des Wohnzimmers, wo wir schon bei unserem ersten Besuch empfangen worden waren.
»Wenn Sie erlauben, würde ich gern erst Ihre Schwester besuchen«, sagte Holmes.
»Meine Schwester ist nicht mehr in der Lage, jemanden zu empfangen. Ihr Augenlicht hat sie verlassen. Sie kann kaum noch sprechen.«
»Sie braucht nicht zu sprechen. Ich will lediglich ihr Zimmer sehen. Weigert sie sich immer noch, richtig zu essen?«
»Es ist keine Frage der Weigerung mehr. Sie kann gar keine feste Nahrung mehr zu sich nehmen. Das Einzige, wozu ich sie überreden kann, ist gelegentlich ein Teller heiße Suppe.«
»Sie glaubt immer noch, sie würde vergiftet.«
»Meiner Meinung nach ist diese fixe Idee der Hauptgrund für ihre Krankheit, Mr. Holmes. Wie ich schon Dr. Watson gesagt habe, habe ich alles vorgekostet, was über ihre Lippen gekommen ist, ohne den geringsten negativen Effekt. Ich weiß nicht, welcher Fluch neuerdings über mir schwebt. Ehe ich Sie kennengelernt habe, war ich ein glücklicher Mann.«
»Und sicher wollen Sie das auch zukünftig sein?«
Wie stiegen in das Mansardenzimmer hinauf, das ich schon kannte. Als wir die Tür erreichten, begegnete uns Kirby, der ein Tablett mit einem unberührten Teller heraustrug. Er warf seinem Herrn einen Blick zu und schüttelte den Kopf, um anzudeuten, dass die Patientin erneut nichts gegessen hatte. Wir traten ein.
Beim Anblick von Eliza Carstairs war ich entsetzt. Wie lange war es jetzt her, dass ich sie zuletzt gesehen hatte? Kaum eine Woche, aber in dieser Zeit war sie so abgemagert, dass sie mich an das lebende Skelett erinnerte, das in Dr. Silkin’s House of Wonders gezeigt worden war. Ihre Haut war auf diese schreckliche Weise über das Gesicht gespannt, die anzeigt, dass ein Patient kurz vor dem Exitus steht, ihre Lippen waren schon so weit zurückgezogen, dass man Zähne und Zahnfleisch sah. Der dürftige Körper unter der Decke war ein erschütternder Anblick. Ihre Augen starrten uns an, ohne etwas zu sehen. Ihrevor der Brust gekreuzten Hände, die auf der Bettdecke lagen, schienen die einer Greisin zu sein, die dreißig Jahre älter als Eliza Carstairs war.
Holmes sah sie nur kurz an. »Das Badezimmer ist hier nebenan?«, fragte er.
»Ja. Aber sie ist zu schwach, um noch hinzugehen. Mrs. Kirby und meine Frau waschen sie jetzt gleich hier, wo sie liegt …«
Holmes hatte den Raum schon verlassen. Er war ins Badezimmer gegangen, während Carstairs und ich in unbehaglichem Schweigen mit der blinden Patientin zurückblieben. Schließlich kam er zurück. »Wir können jetzt wieder nach unten gehen«, sagte er. Carstairs und ich folgten ihm leicht verwirrt, denn der ganze Besuch hatte kaum eine halbe Minute gedauert.
Wir gingen wieder ins Wohnzimmer, wo jetzt auch Catherine Carstairs vor einem fröhlichen Feuer saß und in einem Buch las. Als wir eintraten, schlug sie es zu und erhob sich. »Ach, Mr. Holmes! Dr. Watson! Mit Ihnen hatte ich ja am allerwenigsten gerechnet.« Sie warf ihrem Mann einen schnellen Blick zu. »Ich dachte …«
»Ich habe genau das getan, was wir verabredet haben, meine Liebe, aber Mr. Holmes hat beschlossen, trotzdem hierherzukommen.«
»Es überrascht mich, dass Sie mich offenbar gar nicht sehen wollten, Mrs. Carstairs«, sagte Holmes. »Waren Sie es nicht, die eigens zu mir gekommen ist, um mich zu konsultieren, als Ihre Schwägerin krank wurde?«
»Das ist lange her, Mr. Holmes. Ich will ja nicht unhöflich sein, aber ich habe mittlerweile die Hoffnung aufgegeben, dass Sie uns irgendwie helfen können. Der Mann, der hier eingedrungen ist, um Geld und Schmuck zu stehlen, ist tot. Müssen wir wirklich wissen, wer ihn erstochen hat? Nein! Die Tatsache, dass er uns nicht mehr
Weitere Kostenlose Bücher