Das Geheimnis des weißen Bandes
den Jungen erschreckt hatte, hatte damit gar nichts zu tun. Es war vielmehr Ihr Anblick, Mr. Carstairs. Ross wollte unbedingt wissen, wer Sie waren, weil er Sie wiedererkannt hatte. Weiß der Himmel, was Sie dem Kind angetan haben. Noch heute lehne ich es ab, auch nur daran zu denken. Aber Sie kannten sich offenbar aus dem House of Silk.«
Ein neuerliches schreckliches Schweigen senkte sich über den Raum.
Schließlich fragte Catherine Carstairs: »Das House of Silk? Was ist das?«
»Ich werde diese Frage nicht beantworten, Mrs. Carstairs. Noch habe ich Veranlassung, mich überhaupt weiter mit Ihnen zu beschäftigen. Nur eines will ich Ihnen noch sagen: WieSie selbst wissen, konnte Ihr ganzer Plan mit der Hochzeit ja nur funktionieren, wenn Sie einen Mann vor sich hatten, der sich auch ohne Liebe und Zuneigung und gegen den Willen seiner Familie mit einer Frau schmücken wollte, um in der Gesellschaft besser bestehen zu können. Wie Sie gerade eben so trefflich gesagt haben: Sie haben Ihren Mann als das gesehen, was er ist. Ich habe mich natürlich selbst auch gefragt, mit was für einem Menschen ich es eigentlich zu tun hatte, als ich Mr. Carstairs zum ersten Mal sah. Besonders, als er mir erzählte, er sei auf dem Weg zu einer Wagner-Oper, obwohl an diesem Tag in der ganzen Stadt kein Wagner gespielt wurde.
Ross hat Sie erkannt, Mr. Carstairs. Das war das Schlimmste, was Ihnen passieren konnte, denn ich vermute, dass Anonymität das A und O im House of Silk war. Sie gingen bei Nacht dorthin, Sie taten, was Sie glaubten tun zu müssen, und dann sind Sie wieder gegangen. Ross war bei alledem nur Ihr Opfer. Aber er war auch sehr frühreif, und seine Armut und Verzweiflung hatten ihn schon zu allerlei kleinen Verbrechen getrieben. Er hatte einem der Männer, die sich seiner bedient hatten, eine goldene Uhr gestohlen. Und kaum hatte er den Schock überwunden, Sie in Bermondsey zu sehen, da überlegte er bereits, wie er diese Zufallsbegegnung für sich nutzen könnte. Das sagte er jedenfalls zu seinem Freund Wiggins. Hat er Sie am nächsten Tag besucht? Hat er damit gedroht, Sie bloßzustellen, wenn Sie ihm kein Vermögen bezahlten? Oder waren Sie ohnehin schon zu Charles Fitzsimmons und seinen Schlägern gerannt? Haben Sie verlangt, dass sie den Jungen ruhigstellen sollen?«
»Ich habe überhaupt nichts von ihnen verlangt«, murmelte Carstairs mit einer Stimme, die große Mühe zu haben schien, die Worte über seine Lippen zu heben.
»Sie sind jedenfalls zu Fitzsimmons gegangen und haben ihm gesagt, dass Sie erpresst werden. Entsprechend seiner Empfehlung haben Sie Ross zu einem Treffen eingeladen, von dem er glaubte, dass er dort Geld für sein Schweigen erhalten würde. Zu dieser Verabredung war Ross unterwegs, als Watson und ich im Bag of Nails eintrafen. Wir haben ihn nur um Minuten verfehlt. Aber Ross wurde nicht von Ihnen oder Fitzsimmons erwartet, sondern von zwei Mördern, die sich Henderson und Bratby nannten. Diese beiden Männer haben dafür gesorgt, dass er Sie nicht mehr behelligen würde.«
Holmes unterbrach sich für einen Moment.
»Ross wurde zu Tode gemartert für sein Aufbegehren, dann wurde ihm ein weißes Band um die Hand gebunden – als Warnung an all die anderen armen Kinder, denen womöglich auch so etwas einfallen könnte. Sie haben diesen Mord vielleicht nicht persönlich befohlen, Mr. Carstairs, aber Sie sollen wissen, dass ich Sie persönlich dafür verantwortlich mache. Sie haben ihn ausgenutzt. Sie haben ihn getötet. Sie sind genauso verkommen wie die schlimmsten Verbrecher, die ich je gekannt habe.«
Er stand auf.
»Ich werde dieses Haus jetzt verlassen, denn ich möchte mich hier nicht länger aufhalten. Ich glaube, wenn man es recht betrachtet, war Ihre Ehe vielleicht gar nicht so verfehlt, wie man denken könnte. Sie waren füreinander geschaffen. Nun, Sie werden draußen Polizeikutschen für Sie beide finden, die Sie allerdings nicht an denselben Bestimmungsort bringen werden. Sind Sie so weit, Watson? Wir finden den Weg alleine.«
Edmund und Catherine Carstairs saßen reglos auf dem Sofa nebeneinander. Keiner von beiden sagte etwas. Aber ich spürte, dass ihre Blicke uns folgten.
Nachwort
Mit schwerem Herzen schließe ich meine Arbeit ab. Während ich dies alles aufgeschrieben habe, schien es mir, als hätte ich alles noch einmal erlebt, und obwohl es viele Dinge gibt, die ich lieber vergessen hätte, tat es doch gut, einmal mehr an der Seite meines Freundes zu sein und
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