Das Geheimnis des weißen Bandes
dass wir zumindest diesen traurigen Teil der Geschichte jetzt abschließen können. O’Donaghue ist bei der Schießerei in Boston verletzt worden, bei der sein Bruder getötet wurde. Er ist nach England gekommen, um Rache zu nehmen. So weit liegt die Sache doch auf der Hand.«
»Mir fällt nicht viel ein, das weniger auf der Hand liegen würde«, widersprach Holmes. »Erklären Sie mir bitte, Herr Inspektor: Wer hat Keelan O’Donaghue umgebracht? Und warum?«
»Nun ja, der offensichtlichste Kandidat wäre Edmund Carstairs selbst.«
»Nur, dass Mr. Carstairs zum Zeitpunkt des Verbrechens mituns zusammen gewesen ist. Und wenn ich an seine Reaktion bei der Entdeckung der Leiche denke, halte ich es für ausgeschlossen, dass er die Nerven oder die Willenskraft hätte, so einen Stoß zu führen. Außerdem wusste er gar nicht, wo sich das Opfer befand. Soweit uns bekannt ist, wusste niemand in Ridgeway Hall, wo der Mann abgestiegen war, denn auch wir haben es erst unmittelbar vor Entdeckung des Toten erfahren. Außerdem möchte ich Sie fragen: Wenn das hier wirklich Keelan O’Donaghue ist, warum hat er dann ein Zigarettenetui mit den Initialen ›WM‹?«
»Ein Zigarettenetui?«
»Es liegt im Bett und ist zum Teil vom Kissen bedeckt, was ohne Zweifel der Grund sein dürfte, warum es auch dem Mörder entgangen ist.«
Lestrade nahm den besagten Gegenstand an sich und untersuchte ihn flüchtig. »O’Donaghue war ein Dieb«, sagte er. »Es gibt keinen Grund, warum das nicht gestohlen sein sollte.«
»Warum sollte er so etwas stehlen? Es handelt sich nicht gerade um ein Wertstück. Das Etui ist aus Blech, und die Buchstaben sind drauflackiert.«
Lestrade hatte das Etui aufgemacht. Es war leer. Er klappte es wieder zu. »Das sind doch alles Fantasien bei Mondlicht«, sagte er. »Ihr Problem, Holmes, besteht darin, dass Sie alles komplizierter machen, als es tatsächlich ist. Ich frage mich manchmal, ob Sie das absichtlich machen. Man hat den Eindruck, Sie bauschen das Verbrechen auf, bis es Ihren Fähigkeiten entspricht, damit Sie sich nicht mit Dingen beschäftigen müssen, die Ihrer nicht wert sind. Der Mann in diesem Zimmer war Amerikaner. Er wurde bei einer Schießerei verletzt. Er ist einmal am Strand und zweimal in Wimbledon gesehen worden. Wenn er tatsächlich diese Pfandleihe aufgesucht hat, die Sie erwähnt haben, dann finden wir dort auch den Beweis, dass er der Einbrecherist, der Carstairs’ Tresor ausgeraubt hat. Von da aus ist es einfach genug, zu rekonstruieren, was hier passiert ist. Ohne Zweifel hatte O’Donaghue kriminelle Kontakte in London. Vielleicht hat er den einen oder anderen Komplizen angeheuert, der ihm bei seiner Vendetta helfen sollte. Die beiden haben sich gestritten, der andere hat ein Messer gezogen, und das Ergebnis sehen Sie vor sich!«
»Sind Sie sich dessen ganz sicher?«
»So sicher wie nötig.«
»Nun, wir werden ja sehen. Aber davon, dass wir die Sache hier diskutieren, hat keiner was. Vielleicht kann uns die Besitzerin des Hotels weiterhelfen.«
Aber Mrs. Oldmore, die jetzt in dem kleinen Büro saß, das gestern Abend der Hausdiener besetzt hatte, konnte den bisherigen Erkenntnissen wenig hinzufügen. Sie war eine grauhaarige Alte mit saurem Gesicht, die ihren Oberkörper mit den Armen umklammerte, als hätte sie Angst, sich mit irgendeiner Krankheit zu infizieren, wenn sie die Wände anfasste. Sie trug einen Knoten und hatte sich eine Stola aus Fell um die Schultern gelegt. Es schauderte mir allerdings bei der Vorstellung, von welchem Tier der Pelz stammen könnte und wie es gestorben war. Am wahrscheinlichsten schien mir der Hungertod.
»Er hat das Zimmer für eine Woche gemietet«, sagte sie. »Und mir eine Guinee gegeben. Ein amerikanischer Gentleman, der gerade vom Schiff in Liverpool kam. Das hat er mir erzählt, sonst aber nicht viel. Er war zum ersten Mal in London. Das hat er zwar nicht gesagt, aber ich hab es gemerkt, denn er kannte sich überhaupt nicht hier aus. Er hat mich gefragt, wie man nach Wimbledon kommt, denn er wollte da jemand treffen. ›Wimbledon?‹, habe ich gesagt, ›das iss ’ne schicke Gegend mit vielen reichen Amerikanern und schönen Villen, das könn’ Se mir glauben.‹ Dabei war er selbst überhaupt nichtschick – er hatte kaum Gepäck, seine Kleider waren schäbig, und dann diese grässliche Narbe. ›Ich werde morgen da rausfahren‹, hat er gesagt. ›Da ist mir einer was schuldig, und das werd’ ich mir holen.‹ So wie er geredet
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