Das Geheimnis des weißen Bandes
hat, wusste man gleich, dass er nichts Gutes vorhat, und ich dachte noch: Wer immer das sein mag, er soll bloß gut auf sich aufpassen. Ich hatte schon Ärger erwartet, aber was soll man machen? Wenn ich jeden verdächtigen Gast abweisen würde, der an meine Tür klopft, hätte ich bald überhaupt keine mehr. Und jetzt ist dieser Amerikaner, Mr. Harrison, ermordet worden! Na ja, was kann man von so jemand schon erwarten? So ist die Welt heute nun mal: Eine anständige Frau kann kein Hotel mehr führen, ohne dass Blut an die Wand spritzt und Leichen am Fußboden liegen. Ich hätte eben nicht in London bleiben dürfen. Es ist eine schreckliche Stadt, absolut schrecklich!«
Wir überließen sie ihrem Elend, und Lestrade verabschiedete sich. »Ich bin sicher, wir werden uns bald wieder begegnen, Mr. Holmes«, sagte er. »Und wenn Sie mich brauchen sollten, wissen Sie ja, wo Sie mich finden.«
»Sollte ich je in die Verlegenheit kommen, Inspektor Lestrade zu brauchen«, murmelte Holmes, nachdem der Beamte gegangen war, »dann stehen die Dinge mit mir sehr schlecht. Aber lassen Sie uns mal diese Gasse anschauen, Watson. Der Fall scheint mir zwar gelöst, aber es gibt noch einen Aspekt, der geklärt sein will.«
Wir verließen das Hotel und traten auf die Straße. Nach ein paar Schritten erreichten wir die schmale, mit Müll übersäte Gasse, die unter dem Fenster des Zimmers lag, in dem der Amerikaner den Tod gefunden hatte. Das Fenster war deutlich zu sehen, und auch die Kiste, die jemand daruntergestellt hatte. Es war nur allzu offensichtlich, dass der Mörder sie als Trittbrett benutzt hatte, um an das Fenster heranzukommen, dasnicht besonders gesichert war und sich von außen wahrscheinlich mühelos hatte öffnen lassen. Holmes warf einen flüchtigen Blick auf den Boden, schien dort aber nichts zu finden, was seiner Aufmerksamkeit wert war. Wir gingen die Gasse ein Stück weit hinunter, gelangten aber bald an einen hohen Bretterzaun, hinter dem sich ein leeres Grundstück befand. Da es kein Weiterkommen gab, kehrten wir zur Straße zurück. Holmes war mittlerweile tief in Gedanken versunken, und ich konnte an seinem langen, blassen Gesicht ablesen, dass ihm nicht wohl zumute war.
»Erinnern Sie sich an diesen Jungen, diesen Ross, letzte Nacht?«, sagte er.
»Sie hatten den Verdacht, dass er etwas verheimlicht.«
»Und jetzt bin ich mir dessen ganz sicher. Von dort, wo er gestanden hat, hatte er einen ungehinderten Blick auf das Hotel und die Seitengasse, die, wie wir jetzt wissen, am anderen Ende versperrt ist. Der Mörder kann also nur von der Straße gekommen sein und Ross müsste ihn eigentlich gesehen haben.«
»Ja, ihm schien ziemlich unbehaglich zu sein. Aber wenn er etwas gesehen hat, Holmes, warum hat er uns dann nichts gesagt?«
»Weil er irgendwas vorhatte, Watson. In gewisser Weise hat Lestrade recht. Diese Jungs leben von der Hand in den Mund und müssen sich durchs Leben schlagen, wie’s gerade kommt. Wenn Ross gedacht hat, da wäre etwas zu holen, dann hätte er sich auch mit dem Teufel angelegt, um es zu kriegen! Und doch gibt es da etwas, das ich überhaupt nicht verstehe. Was könnte dieses Kind gesehen haben? Vielleicht hat er einen Schrei gehört, als das Messer sein Ziel fand. Kurz darauf sieht er eine Gestalt, die aus der Gasse kommt und sekundenlang ins Licht der Laterne gerät, ehe sie in der Nacht verschwindet. Ross bleibt, wo er ist, und anderthalb Stunden später erscheinen wir.«
»Er hatte Angst«, sagte ich. »Er hielt Carstairs für einen Polizisten.«
»Das war mehr als bloß Furcht«, sagte Holmes. »Ich würde sagen, der Junge war tödlich erschrocken, aber ich dachte natürlich …« Holmes schlug sich mit der Hand an die Stirn. »Wir müssen ihn wiederfinden und noch einmal mit ihm reden. Ich hoffe, ich habe mich nicht einer schweren Fehlkalulation schuldig gemacht.«
Auf dem Heimweg zur Baker Street legten wir noch einen Zwischenhalt bei einem Telegrafenamt ein, und Holmes schickte Wiggins, dem Kommandierenden Offizier seiner »Irregulären«, ein weiteres Telegramm.
Aber auch vierundzwanzig Stunden später hatte sich Wiggins noch nicht wieder bei uns gemeldet. Und kurz darauf erhielten wir die denkbar schlechteste Nachricht.
Ross war verschwunden.
6
Die Chorley Grange School for Boys
Im Jahre 1890, dem Jahr, über das ich hier schreibe, lebten in den sechshundert Quadratmeilen des Metropolitan Police District von London mehr als fünfeinhalb Millionen Menschen, und
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