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Das Geheimnis des weißen Bandes

Das Geheimnis des weißen Bandes

Titel: Das Geheimnis des weißen Bandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anthony Horowitz
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wie so oft wohnten Reichtum und Armut in prekärer Nachbarschaft dicht beieinander. Nachdem ich im Verlauf der Jahre so viele große Veränderungen miterlebt habe, denke ich manchmal, dass ich das gewaltige Durcheinander dieser stetig wachsenden Stadt, in der ich gelebt habe, vielleicht ausführlicher hätte schildern sollen – in der Art von Gissing vielleicht, oder wie Dickens fünfzig Jahre zuvor. Zu meiner Verteidigung kann ich nur sagen, dass ich kein Historiker oder Journalist war, sondern Biograph, und dass mich die dargestellten Abenteuer unweigerlich in die besseren Kreise geführt haben – elegante Privathäuser, Hotels, Clubs, Privatschulen und Ministerien. Es trifft zwar zu, dass die Klienten von Sherlock Holmes aus allen Klassen stammten, aber ebenso, dass die interessanteren Verbrechen (und vielleicht nimmt sich eines Tages jemand die Zeit, die Tragweite dieses Phänomens zu ermessen) stets von Angehörigen der oberen Klassen begangen wurden.
    In diesem Fall allerdings komme ich nicht umhin, den Bodensatz des großen Schmelztiegels ins Auge zu fassen, den Gissing die »Unterwelt« nannte, um verständlich zu machen, warum die Lösung unserer Aufgabe so schwierig, ja recht eigentlich unmöglich war. Wir mussten ein Kind, ein hilfloses kleines Lumpenbündel unter so vielen in dieser Riesenstadtfinden; und wenn Holmes recht hatte und der Junge in Lebensgefahr schwebte, mussten wir uns beeilen. Wo sollten wir anfangen? Unsere Nachforschungen würden dadurch nicht einfacher werden, dass sich die Stadt in rastloser Bewegung befand und die Einwohner ständig von Haus zu Haus und von Straße zu Straße umzogen, so dass kaum jemand die Namen der Leute kannte, die nebenan wohnten. Die Räumung der Slums und der Bau der Eisenbahnen trugen wesentlich dazu bei, aber viele Londoner waren auch mit einer inneren Ruhelosigkeit in die Stadt gekommen, die es ihnen gar nicht erlaubte, sich lange niederzulassen. Wie Nomaden zogen sie durch die Stadt, immer dorthin, wo es gerade Arbeit gab. Im Sommer halfen sie bei der Obsternte oder arbeiteten auf dem Bau, und wenn die kalte Jahreszeit kam, verkrochen sie sich irgendwo, immer auf der Suche nach Kohle und einem Happen zu essen. Eine Zeitlang blieben sie sesshaft, aber sobald das Geld alle war, mussten sie weiterziehen.
    Der schlimmste Fluch unserer Zeit aber waren die Kälte und Lieblosigkeit, die Zehntausende Kinder auf die Straßen getrieben hatten, wo sie bettelten, stahlen und plünderten oder, wenn sie nicht stark genug waren, irgendwo im Stillen starben, ungeliebt und ohne dass jemand von ihnen wusste. Ihren Eltern, wenn sie überhaupt noch lebten, war ihr Schicksal gleichgültig. Es gab Kinder, die sich, sofern sie ihren Anteil aufbringen konnten, für drei Pennys die Nacht in Wohnheimen drängten, die kaum zur Unterbringung von Tieren geeignet gewesen wären. Kinder schliefen auf Dächern, in Schweinekoben am Smithfield Market, in den Abwässerkanälen und sogar in Höhlen, die sie in die Schlackehaufen der Hackney Marshes gegraben hatten. Es gab, wovon noch zu reden sein wird, ein paar Hilfsorganisationen, die ihnen Kleider und Nahrung verschaffen wollten, aber die Wohltäter waren zu wenige und die Kinder zu viele, undals das Jahrhundert zu Ende ging, hatte London immer noch Grund genug, sich zu schämen.
    Doch genug, Watson, das reicht! Zurück zu unserer Geschichte! Wenn Holmes noch lebte, hätte er so etwas nie geduldet.
     
    Seit wir Mrs. Oldmore’s Private Hotel verlassen hatten, war Holmes getrieben von einer inneren Unruhe. Tagsüber marschierte er in seinem Salon auf und ab wie ein Bär. Er rauchte ununterbrochen, rührte aber sein Lunch oder Dinner kaum an, und voller Beunruhigung sah ich ihn ein, zwei Mal auf das hübsche Köfferchen aus Marokkoleder auf seinem Kamin blicken, in dem er, wie ich wusste, eine Spritze aufbewahrte. Aber es wäre wirklich sehr ungewöhnlich gewesen, wenn Sherlock Holmes mitten in einem Fall zu der siebzigprozentigen Kokainlösung gegriffen hätte, die ohne Zweifel seine abscheulichste Angewohnheit war. Ich glaube, geschlafen hat er überhaupt nicht mehr. Bis spät in die Nacht, wenn ich schon fast schlief, hörte ich ihn auf seiner Stradivari spielen, aber die Melodie war brüchig und voller Dissonanzen, und ich spürte, dass er nicht mit dem Herzen bei der Sache war. Die Nervosität meines Freundes verstand ich nur allzu gut. Er hatte von einer schweren Fehleinschätzung gesprochen, derer er sich schuldig gemacht hätte.

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