Das Geheimnis des weißen Bandes
eines Stellvertretenden Commissioners ‒ obwohl es stimmt, dass ein guter Teil seines Renommees auf Fällen beruhte, die in Wirklichkeit Sherlock Holmes gelöst hatte. Bei unserem langen, angenehmen Gespräch äußerte Lestrade sogar den Verdacht, dass er von Sherlock Holmes so beeindruckt gewesen sein könnte, dass er vor lauter Ehrfurcht oft gar nicht mehr fähig war, klar zu denken, wenn er sich in Gegenwart des großen Mannes befand. Nun, jetzt ist er tot, und es ist gewiss kein Vertrauensbruch, wenn ich ihm gerecht zu werden versuche. Erwar kein schlechter Mann. Und ich muss zugeben, dass es mir oft genauso wie ihm ging.
Wie auch immer, jedenfalls war es Inspektor Lestrade, der am nächsten Morgen in Mrs. Olmore’s Private Hotel kam, um die Ermittlungen aufzunehmen. Ja, er war genauso blass wie immer, und seine glitzernden, tief liegenden Augen gaben ihm das Aussehen einer Ratte, die sich für einen Lunchtermin im Savoy herausgeputzt hat. Nachdem Holmes die Schutzleute auf der Straße alarmiert hatte, war der Raum verschlossen und unter Bewachung gestellt worden, bis das kalte Morgenlicht die Schatten vertreiben und eine ordentliche Untersuchung des Hotels und seiner Umgebung ermöglichen würde.
»Na na na, Mr. Holmes«, bemerkte er mit einer gewissen Irritation. »Als ich in Wimbledon war, wurde mir gesagt, Sie würden bald kommen, und jetzt sind Sie schon wieder am Tatort eines Verbrechens.«
»Nun, wir sind beide den Spuren dieses armen Kerls gefolgt, der sein Leben hier beendet hat«, gab Holmes darauf zurück.
Lestrade betrachtete die Leiche. »Das scheint tatsächlich der Mann zu sein, den wir suchen.«
Holmes erwiderte nichts, und Lestrade warf ihm einen scharfen Blick zu. »Wie kommt es, dass Sie ihn gefunden haben?«
»Es war geradezu lächerlich einfach. Dank Ihrer brillanten Ermittlungen wusste ich, dass er mit dem Zug nach London Bridge gefahren war. Meine Agenten haben die umliegende Gegend abgesucht, und zwei von ihnen hatten das Glück, ihn auf der Straße zu treffen.«
»Ich vermute, Sie reden von dieser Lausebande, derer Sie sich häufig bedienen. Also, ich würde mich nicht so ohne weiteres mit denen einlassen, Mr. Holmes. Das kann sehr böse enden. Die sind alle kleine Gauner und Taschendiebe und fühlen sich womöglich von Ihnen ermutigt. Ist die Halskette irgendwo aufgetaucht?«
»Nein, dafür gibt es keine direkten Anzeichen. Aber ich habe das Zimmer auch noch nicht gründlich durchsucht.«
»Dann sollten wir vielleicht mal damit anfangen.«
Entsprechend seiner Ankündigung begann Lestrade mit einer Untersuchung des Zimmers. Es war ein ziemlich elendes Loch mit zerrissenen Vorhängen, einem angeschimmelten Teppich und einem Bett, das erschöpfter aussah als jeder Gast, der vielleicht darauf Schlaf zu finden versucht hätte. An einer Wand hing ein gesprungener Spiegel. Ein Waschgestell mit einer schmutzigen Schüssel und einem hässlichen Klumpen steinharter Kernseife stand in der Ecke. Eine Aussicht gab es nicht. Das Fenster blickte über eine schmale Gasse hinweg auf die gegenüberliegende Brandmauer, und obwohl die Themse ein paar hundert Meter entfernt und auch nicht zu sehen war, war die ganze Behausung von ihren feuchten Ausdünstungen und vor allem von ihrem Geruch durchdrungen.
Als Nächstes wandte Lestrade seine Aufmerksamkeit der Leiche selbst zu. Der Tote war genauso gekleidet, wie ihn Carstairs beschrieben hatte: Er trug einen Gehrock, der bis zum Knie reichte, eine kräftige Weste und ein Hemd, das bis zum Hals zugeknöpft war. Alle diese Kleidungsstücke waren völlig mit Blut durchtränkt. Das Messer, das ihn getötet hatte, steckte bis zum Heft in seinem Hals und hatte offensichtlich die Halsschlagader durchtrennt. Nach meiner professionellen Einschätzung musste ihn das sofort getötet haben.
Lestrade untersuchte die Taschen des Toten, fand aber nichts. Jetzt, wo ich Gelegenheit hatte, den Mann, der Carstairs nach Ridgeway Hall gefolgt war, genauer zu betrachten, stellte ich fest, dass er ungefähr Anfang vierzig und von gutem Körperbau war, mit breiten Schultern und muskulösen Armen. Sein Haar war kurz geschnitten und begann an den Schläfen schon grau zu werden. Das Auffälligste an ihm war die Narbe, die amMundwinkel ansetzte und sich bis über den Wangenknochen fortsetzte, wobei sie das Auge nur gerade eben verfehlte. Er war dem Tod einmal ganz knapp entronnen. Beim zweiten Mal hatte er weniger Glück gehabt.
»Können wir sicher sein, dass dies der
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