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Das Geheimnis des weißen Bandes

Das Geheimnis des weißen Bandes

Titel: Das Geheimnis des weißen Bandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anthony Horowitz
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Das Verschwinden von Ross deutete darauf hin, dass diese Befürchtung nicht falsch war, und wenn es so war, würde er sich das niemals vergeben.
    Dennoch hatte ich zunächst angenommen, wir würden bald wieder nach Wimbledon hinausfahren. Aufgrund dessen, was Holmes im Hotel gesagt hatte, ging ich davon aus, dass der Fall des Mannes mit der flachen Mütze gelöst war und Holmes nur noch darauf wartete, eine jener verblüffenden Erklärungen abzugeben, die mich jedes Mal darüber staunen ließen, wie ichnur so begriffsstutzig hatte sein können, nicht selber darauf zu kommen.
    Doch dann erreichte uns beim Frühstück ein Brief von Catherine Carstairs, in dem sie mitteilte, dass sie mit ihrem Gemahl ein paar Tage nach Suffolk zu Freunden gefahren war. Edmund Carstairs mit seiner fragilen Natur brauchte Zeit, um sich wieder zu sammeln. Ich würde also warten müssen, denn Holmes gab seine Erklärungen nie ohne passendes Publikum ab.
    Am Ende dauerte es zwei Tage, ehe Wiggins wieder in der Baker Street 221b auftauchte, dieses Mal unaufgefordert. Er hatte die Nachricht von Holmes erhalten (wie genau, weiß ich nicht, denn ich habe nie erfahren, wie und wo Wiggins wohnte) und zwei Tage lang nach Ross gesucht, aber ohne Erfolg.
    »Ende des Sommers ist er nach London gekommen«, teilte Wiggins uns mit.
    »Woher denn?«
    »Keine Ahnung. Als ich ihn traf, hat er bei einer Familie in King’s Cross gewohnt. Neun Leute in zwei Zimmern. Ich hab mit denen geredet, aber sie haben ihn seit der Nacht am Hotel nicht mehr gesehen. Keiner hat ihn gesehen. Ich glaub, er versteckt sich.«
    »Wiggins, ich möchte, dass du mir genau erzählst, was an dem Abend passiert ist«, sagte Holmes streng. »Ihr beide seid dem Amerikaner von der Pfandleihe ins Hotel gefolgt. Dann hast du Ross dort gelassen, während du mich gesucht hast. Er muss eine ganze Weile allein dort gewesen sein.«
    »Ross hatte nichts dagegen. Ich hab ihn nicht gezwungen.«
    »Das unterstelle ich gar nicht. Irgendwann sind wir dann dort hingekommen, Mr. Carstairs, Dr. Watson, du und ich. Ross war immer noch da. Ich hab euch beiden Geld gegeben und hab euch gehen lassen. Ihr seid zusammen weggegangen.«
    »Aber bald haben wir uns getrennt«, erwiderte Wiggins. »Er ist seiner Wege gegangen, ich meiner.«
    »Hat er irgendetwas zu dir gesagt? Habt ihr euch unterhalten?«
    »Ross war anders als sonst, auf jeden Fall. Er hatte etwas gesehen ...«
    »Vor dem Hotel? Hat er dir gesagt, was es war?«
    »Ein Mann. Mehr hat er nicht gesagt. Hatte einen Mordsbammel deswegen. Er ist zwar erst dreizehn, aber er weiß genau, wie’s läuft. Verstehen Sie? Er war völlig fertig.«
    »Er hat den Mörder gesehen!«, rief ich.
    »Ich weiß nicht, was er gesehen hat, aber ich kann Ihnen sagen, was er gesagt hat. ›Den kenne ich, dem knöpf ich was ab. Und zwar mehr als die mickrige Guinee von dem verfluchten Mr. ’olmes.‹ Entschuldigen Sie, Sir, aber das waren seine Worte. Ich glaube, er wollte jemanden erpressen.«
    »Sonst noch etwas?«
    »Nur, dass er es ziemlich eilig hatte. Rannte gleich los und war weg, ist nicht mit nach King’s Cross. Weiß nicht, wo er hinwollte. Bloß, dass er in der Nacht verschwand und ihn danach niemand mehr gesehen hat.«
    Während Holmes sich das anhörte, war er so bedrückt, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Er hockte sich vor dem Jungen hin und sah ihm ernst ins Gesicht. Wiggins sah sehr klein neben ihm aus. Unterernährt und kränklich, mit geröteten Augen und vom Londoner Ruß verschmiertem Gesicht wäre er auf der Straße praktisch unsichtbar gewesen. Wahrscheinlich war es deshalb so einfach, das Schicksal dieser Kinder zu ignorieren. Es gab so viele von ihnen, und sie sahen alle gleich aus. »Hör mal, Wiggins«, sagte Holmes eindringlich. »Es könnte sein, dass Ross in großer Gefahr ist –«
    »Ich hab doch nach ihm gesucht! Überall!«
    »Das glaube ich. Aber du musst mir sagen, was du von seiner Vergangenheit weißt. Wo ist er hergekommen? Wer sind seine Eltern gewesen?«
    »Der hat nie irgendwelche Eltern gehabt. Längst tot. Er hat nie gesagt, wo er herkommt, und ich hab nie gefragt. Ist doch egal.«
    »Denk nach, Junge. Wenn er ein großes Problem hätte, gibt es da jemanden, zu dem er vielleicht gehen würde? Einen Ort, wo er Zuflucht suchen könnte?«
    Wiggins schüttelte den Kopf. Aber dann überlegte er sich’s offenbar. »Ist da noch mal ’ne Guinee für mich drin?«
    Die Augen meines Freundes verengten sich, und ich sah, dass er um

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