Das Geheimnis des weißen Bandes
Fassung rang. »Ist dir das Leben deines Kameraden so wenig wert?«, fragte er.
»Ich weiß nicht, was Sie damit meinen. Er geht mich nix an, Mr. ’olmes. Ist mir doch egal, ob er lebt oder stirbt. Wenn Ross nicht mehr auftaucht, gibt’s zwanzig andere, die bei uns mitmachen.«
Holmes starrte ihn immer noch voller Empörung an, und plötzlich schien Wiggins nachzugeben. »Na, schön. Da war mal jemand, der sich eine Weile um ihn gekümmert hat. So’n Wohltätigkeitsverein. Chorley Grange, oben in Hamworth. Eine Schule für Jungen. Hat er mal gesagt. Aber er fand’s ganz schlimm da und ist weggerannt. Danach ist er nach King’s Cross gekommen. Aber vielleicht, wenn er Angst hatte, wenn jemand hinter ihm her war … keine Ahnung, dann ist er vielleicht wieder da hin. Der Teufel, den man kennt, ist besser, als der, den man nicht kennt.«
Holmes richtete sich auf. »Danke, Wiggins. Ich möchte, dass du weiter nach ihm suchst. Frag jeden, den du kennst oder auch nicht kennst.« Er nahm eine Münze heraus und gab sie dem Jungen. »Wenn du ihn findest, musst du ihn sofort herbringen.Mrs. Hudson gibt euch etwas zu essen und kümmert sich um euch, bis ich wieder zurückkomme. Hast du verstanden?«
»Ja, Mr. ’olmes.«
»Gut. Watson, ich hoffe, Sie begleiten mich? Von Baker Street bis Harrow-on-the-Hill können wir mit der Metropolitan fahren.«
Eine Stunde später setzte uns eine Droschke vor drei hübschen Häusern an einer schmalen Straße ab, die von dem Dorf Roxeth eine Meile weit nach Hamworth Hill hinaufführte. Das größte dieser Gebäude, das in der Mitte, ähnelte einem Herrenhaus von vor hundert Jahren. Es hatte ein rotes Ziegeldach und eine Veranda, die im ersten Stock um das ganze Haus herumführte. Die Fassade war gänzlich mit Ranken bedeckt, die im Sommer vielleicht üppig und grün waren, jetzt aber ein dürres Gestrüpp bildeten. Das ganze Anwesen war umgeben von Ackerland, und der Rasen fiel zu einem Obstgarten hin ab, der mit zahlreichen alten Apfelbäumen gefüllt war. Weiter hinten waren ein paar Jungen damit beschäftigt, ein großes Gemüsebeet mit Spaten und Hacken zu attackieren. Auf einem hölzernen Schild stand: Chorley Grange Home for Boys. Man glaubte kaum, dass wir noch in der Nähe von London waren, denn die Luft war frisch und die Umgebung überaus reizvoll. Jedenfalls wäre sie das bei milderem Wetter gewesen, aber es war wieder kalt geworden, und außerdem nieselte es. Die Häuser links und rechts waren entweder Scheunen, Stallungen oder Brauereigebäude, schienen jetzt aber nach den Bedürfnissen der Schule umgebaut worden zu sein. Auf der gegenüberliegenden Seite der Straße erhob sich ein weiterer Bau, der von einem reich geschmückten Staketengitter umgeben war, dessen Tor offen stand. Dieses Gebäude machte einen verlassenen Eindruck, denn man sah kein Licht und keine Bewegung darin.
Wir klingelten am Haupteingang, und ein Mann in einem dunkelgrauen Anzug machte die Tür auf. Er hörte schweigend zu, als Holmes ihm in kurzen Worten erklärte, wer wir waren und was wir wollten.
»Sehr wohl, meine Herren. Wenn Sie einen Augenblick warten mögen …« Er bat uns einzutreten und ließ uns in einer kahlen, holzgetäfelten Halle warten, in der außer einem silbernen Kreuz und ein paar nahezu völlig verblassten, kaum noch entzifferbaren Porträts nichts an den Wänden hing. Ein langer Korridor mit vielen Türen erstreckte sich in den hinteren Teil des Hauses. Ich stellte mir vor, dass sich Klassenzimmer dahinter befänden, aber kein Ton war zu hören. Man hatte den Eindruck, sich eher in einem Kloster zu befinden als in einer Schule.
Dann kehrte der Pedell zurück – falls er das war – und brachte einen rundgesichtigen kleinen Mann mit, der jeweils drei Schritte machen musste, wenn sein Begleiter einen machte, und dementsprechend laut keuchte. Der Neuankömmling war in jeder Beziehung kreisförmig. Äußerlich erinnerte er mich an einen Schneemann im Regent’s Park: Sein Kopf war die eine Kugel, sein Körper die andere, und sein Gesicht war von so herzlicher Einfalt, dass man es leicht mit zwei Stücken Kohle und einer Mohrrübe hätte nachbilden können. Er war ungefähr vierzig und kahlköpfig, lediglich um seine Ohren stand noch ein wenig dunkles Haar. Gekleidet war er wie ein Geistlicher, und sein steifer, runder Kragen bildete an seinem Hals einen weiteren Kreis. Er strahlte, als er auf uns zukam, und breitete seine Arme weit aus.
»Mr. Holmes! Was für eine
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