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Das Geheimnis des weißen Bandes

Das Geheimnis des weißen Bandes

Titel: Das Geheimnis des weißen Bandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anthony Horowitz
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wenn ich in London Fuß gefasst hätte. Um in der Nähe meiner neuen Arbeitsstätte zu sein, habe ich ein Quartier in Shadwell bezogen. Sie kennen die Gegend? Dort wohnen vor allem Seeleute, Dockarbeiter, Chinesen, Inder und Schwarze. Es ist eine bunte Nachbarschaft mit vielen Versuchungen, mit Bars und Tanzhallen, wo man sein Geld loswerden kann. Ich könnte behaupten,dass ich einsam war und meine Familie vermisste. Ich könnte behaupten, dass ich einfach ein Dummkopf war. Das spielt jetzt alles keine Rolle mehr. Es ist zwölf Monate her, dass ich meine ersten Fourpence für ein winziges braunes Wachskügelchen aus dem Tiegel des Händlers gezahlt habe. Der Preis war so lächerlich niedrig! Ich hatte ja keine Ahnung! Die Befriedigung, die es mir verschaffte, war so viel größer als alles, was ich bis dahin erlebt hatte. Es war, als hätte ich nie wirklich gelebt. Natürlich bin ich wieder hingegangen. Erst habe ich einen ganzen Monat gewartet, dann nur noch eine Woche. Plötzlich musste ich jeden Tag hingehen, und jetzt ist es, als müsste ich jede Stunde dort sein. Ich wurde unaufmerksam bei meiner Arbeit. Ich machte Fehler und kriegte unkontrollierte Wutanfälle, wenn ich kritisiert wurde. Meine echten Freunde zogen sich einer nach dem anderen zurück. Die falschen ermutigten mich, immer weiter zu rauchen. Inzwischen haben auch meine Vorgesetzten meinen Zustand bemerkt und drohen damit, mich zu entlassen, aber das ist mir egal. Die Sehnsucht nach Opium erfüllt jede wache Minute, auch jetzt. Es ist drei Tage her, dass ich zuletzt eine Pfeife geraucht habe. Geben Sie mir meine Belohnung, damit ich wieder in den Nebel des Vergessens eintauchen kann.«
    Ich betrachtete den Mann mit Entsetzen und Mitleid, und doch gab es etwas an ihm, was meine Sympathie einschränkte. Er schien mir fast stolz auf seinen schrecklichen Zustand zu sein! Henderson war völlig zerstört. Er wurde langsam von innen aufgefressen.
    Auch Holmes schien sehr ernst. »Der Ort, wo Sie diese Droge einnehmen – ist das das House of Silk?«, fragte er.
    Henderson lachte. »Glauben Sie wirklich, ich hätte solche Angst und müsste solche Vorsichtsmaßnahmen treffen, wenn das House of Silk bloß eine Opiumhöhle wäre?«, rief er. »Wissen Sie, wie viele Opiumkneipen es in Limehouse und Shadwell gibt?Weniger als vor zehn Jahren, heißt es. Aber man kann immer noch von jeder Kreuzung aus eine finden, egal in welche Richtung man geht. Es gibt Mott’s und Mother Abdullah’s und Creer’s Place und Yahee’s. Ich habe mir sagen lassen, inzwischen kann man das Zeug auch am Haymarket und Leicester Square kriegen.«
    »Was ist es denn dann?«
    »Erst das Geld.«
    Holmes zögerte, dann legte er vier knisternde Fünf-Pfund-Noten vor sich auf den Tisch. Henderson grabschte sie sich und streichelte sie. Ein stumpfer Glanz schien seine Augen zu füllen, als seine Sucht, das lauernde Tier in seinem Inneren, erwachte. »Was glauben Sie, woher das Opium kommt, mit dem London, Liverpool und die anderen Häfen in England versorgt werden? Ganz zu schweigen von Schottland und Irland? An wen wenden sich Creer und Yahee, wenn ihnen die Vorräte ausgehen? Von wo aus wird das Netz gewoben, das unser ganzes Land überzieht? Das ist die Antwort auf Ihre Frage, Mr. Holmes. Sie wenden sich an das House of Silk!
    Das House of Silk ist eine Verbrecherorganisation, die im ganz großen Stil arbeitet, und ich habe mir sagen lassen – aber das sind nur Gerüchte –, dass sie von Mitwissern an allerhöchster Stelle gedeckt wird. Ihre Fangarme haben sogar Minister und hohe Polizeibeamte im Griff. Im Prinzip ein normales Import-Export-Geschäft, wenn Sie so wollen, aber Hunderttausende Pfund wert. Das Opium kommt aus Afghanistan. Es wird hier in dieses zentrale Lager gebracht und dann im ganzen Land zu weit überhöhten Preisen weiterverkauft und verteilt.«
    »Und wo befindet sich diese Zentrale?«
    »In London. Wo genau, weiß ich nicht.«
    »Und wer betreibt das Geschäft?«
    »Das kann ich nicht sagen, ich habe keine Ahnung.«
    »Dann haben Sie uns nicht wirklich weitergeholfen, Mr.Henderson. Und woher sollen wir wissen, ob es überhaupt stimmt, was Sie sagen?«
    »Weil ich es beweisen kann.« Er hustete unangenehm, und mir wurde wieder bewusst, dass aufgesprungene Lippen und ein trockener Mund zu den Symptomen einer chronischen Drogenabhängigkeit gehören. »Ich bin seit langem Stammgast in Creer’s Place. Es ist wie ein chinesischer Salon hergerichtet, mit ein paar

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