Das Geheimnis des weißen Bandes
lieber Watson, das kann ich unmöglich erlauben. Ich bin Ihnen zwar dankbar für Ihre Fürsorge, aber wenn wir zu zweit da auftauchen, sehen wir bestimmt nach allem Möglichen aus, aber nicht wie zwei Süchtige, die am Donnerstagabend eine Rauschgifthöhle im Osten von London besuchen.«
»Trotzdem muss ich darauf bestehen, Holmes. Wenn Sie eswünschen, werde ich draußen bleiben. Wir finden sicher eine Stelle, wo ich auf Sie warten kann. Wenn es dann Probleme gibt, bringt mich ein einziger Schuss an Ihre Seite. Creer könnte Leibwächter haben. Und können wir sicher sein, dass Henderson Sie nicht verrät?«
»Da haben Sie recht. Na, schön. Wo ist Ihr Revolver?«
»Den habe ich nicht mitgebracht.«
»Macht nichts. Ich habe noch einen für Sie.« Holmes lächelte, und ich sah die genießerische Vorfreude in seinem Gesicht. »Heute Abend werden wir Creer’s Place einen Besuch abstatten. Mal sehen, was wir dort finden.«
An jenem Abend lag wieder dichter Nebel über der Stadt, der bislang schlimmste des ganzen Monats. Wenn ich geglaubt hätte, dass es irgendwas nutzt, hätte ich versucht, Holmes von seinem geplanten Besuch in Bluegate Fields abzubringen, aber ich sah es schon an seinem blassen, raubvogelhaften Gesicht, dass er es sich nicht würde ausreden lassen, seinen Kurs zu verfolgen. Obwohl er nicht mehr darüber gesprochen hatte, wusste ich doch, dass es der Tod des Kindes war, der ihn antrieb. Solange er sich auch nur zum Teil für schuldig hielt, würde er keine Ruhe finden und jeden Gedanken an seine eigene Sicherheit ignorieren.
Und doch war ich sehr bedrückt, als uns die Droschke vor einer schmalen Gasse am Limehouse Basin absetzte. Der dicke, schweflige Nebel erfüllte die Straßen und erstickte jedes Geräusch. Er war hinterhältig und böse wie ein Raubtier, das auf der Suche nach seiner Beute durch die Dunkelheit schnüffelt, und als wir aus der Droschke stiegen, hatte ich den Eindruck, dass wir uns direkt in seine übel riechenden Fänge begaben.
Wir traten in die schmale Gasse, gefangen zwischen roten Ziegelmauern, die vor Nässe troffen und so hoch in den Himmel hinaufragten, dass man nichts von ihm sah außer einemvon schwachem Mondlicht erhellten Streifen. Zuerst hörten wir nur das Geräusch unserer eigenen Schritte, aber dann erweiterte sich die Passage, und das gedämpfte, entfernte Wiehern eines Pferdes, das dumpfe Rumpeln einer Dampfmaschine, das Rieseln von Wasser und das Wimmern eines schlaflosen Säuglings drangen zu uns heran. Jedes dieser Geräusche schien aus einer anderen Richtung zu kommen und definierte auf seine Weise die Dunkelheit um uns herum.
Wir befanden uns in der Nähe eines Kanals. Eine Ratte oder irgendein anderes Nachtgeschöpf huschte vor uns her, floh über den Rand des Gehwegs und fiel platschend ins Wasser. Ein Hund bellte. Wir kamen an einem Lastkahn vorbei, der am Kai festgemacht war. Hinter den zugezogenen Fenstern der Kajüte sah man trübes Licht schimmern, und der Rauch aus dem Schornstein schien den Nebel noch dichter zu machen. Auf der anderen Seite des Kanals lag das Trockendock einer Werft. Ein Durcheinander von skelettartigen Schiffsrümpfen und herunterhängendem Takelwerk wartete auf Reparaturen.
Wir bogen um eine Ecke, und das alles wurde vom Nebel verschluckt, der sich wie ein Vorhang hinter uns senkte. Als ich mich umdrehte, schien es, als wären wir aus dem Nichts gekommen. Auch vor uns war nichts zu sehen, und wenn wir beim nächsten Schritt über den Rand der Welt getreten wären, wir hätten es nicht gewusst.
Aber plötzlich hörten wir das Klimpern eines Klaviers; jemand stocherte mit einem Finger nach einer Melodie. Eine Frau tauchte aus der Dunkelheit auf, und ich sah ein faltiges, stark geschminktes Gesicht, eine Federboa und einen neckischen Hut. Der Parfumgeruch, den sie verströmte, erinnerte mich an sterbende Blumen in einer Vase. Sie lachte kurz, dann war sie verschwunden. Schließlich tauchten die Lichter einer Gastwirtschaft vor uns auf. Von dort kam auch die Musik.
Das Lokal hieß The Rose and Crown. Den Namen konnten wir allerdings erst lesen, als wir direkt vor dem Schild standen. Es war ein merkwürdiger alter Fachwerkbau, dessen Ziegel nur mühsam von den krummen Balken zusammengehalten wurden und der aussah, als würde er jeden Moment in sich zusammenfallen. Keins der Fenster war richtig gerade, und die Tür war so niedrig, dass man sich bücken musste, um einzutreten.
»Wir sind angelangt, Watson«, flüsterte
Weitere Kostenlose Bücher