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Das Geheimnis des weißen Bandes

Das Geheimnis des weißen Bandes

Titel: Das Geheimnis des weißen Bandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anthony Horowitz
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und des Mantels entledigte, die sie mit hinausnahm. Was nach dieser Entblätterung übrig blieb, war ein äußerst merkwürdig aussehender junger Mann, dessen Mimik so viele Widersprüche enthielt, dass ich überzeugt war, auch Holmes würde ihn nicht so leicht einordnen können. Ich habe gesagt, er war jung, denn er war bestimmt noch nicht über dreißig, dabei gebaut wie ein Preisboxer, aber sein Haar war schon schütter, seine Haut grau, und seine Lippen waren gesprungen, was ihn sehr viel älter erscheinen ließ. Seine Kleider waren modisch und teuer, aber auch schmutzig. Er schien nervös zu sein, demonstrierte aber gleichzeitig ein Selbstbewusstsein, das beinahe aggressiv war. Ich wartete darauf, dass er etwas sagte, denn erst dann würde ich wissen, ob ich mich in Gesellschaft eines Aristokraten oder eines Raufbolds der übelsten Sorte befand.
    »Nehmen Sie doch bitte Platz«, sagte Holmes in seinem freundlichsten Tonfall. »Sie sind lange da draußen gewesen, und es täte mir leid, wenn Sie sich eine Erkältung geholt hätten. Möchten Sie einen heißen Tee?«
    »Ein anständiger Rum wäre mir lieber«, erwiderte er.
    »Den haben wir leider nicht. Einen Brandy vielleicht?«Holmes nickte mir zu, und ich schenkte ein Glas ein, das ich dem Mann in die Hand drückte.
    Er trank es in einem Zug. Ein bisschen Farbe kehrte in sein Gesicht zurück, und er setzte sich hin. »Vielen Dank«, sagte er. Seine Stimme war heiser, aber gebildet. »Ich bin wegen der Belohnung gekommen. Ich hätte es nicht tun sollen. Die Leute, um die es hier geht, würden mir den Hals durchschneiden, wenn sie wüssten, dass ich hier bin, aber ich brauche das Geld, und das ist auch schon alles. Die zwanzig Pfund werden mir die Dämonen eine Weile vom Leib halten, und das ist mir das Risiko wert. Haben Sie das Geld hier?«
    »Sie erhalten das Geld, sobald wir etwas von Ihnen erfahren haben«, sagte mein Freund. »Mein Name ist Sherlock Holmes. Und Sie sind …?«
    »Sie können mich Henderson nennen, das ist zwar nicht mein richtiger Name, aber er ist so gut wie jeder andere. Sehen Sie, Mr. Holmes, ich muss vorsichtig sein. Sie haben eine Anzeige in die Times gesetzt, in der Sie Informationen über das House of Silk erbitten. Seit sie erschienen ist, steht Ihre Wohnung unter Beobachtung. Über jeden, der das Haus betritt, und jeden, der es verlässt, wird genau Buch geführt, und es kann gut sein, dass Sie eines Tages die Namen all Ihrer Besucher werden nennen müssen. Ich habe dafür gesorgt, dass mein Gesicht gut verhüllt war, ehe ich Ihre Wohnung betreten habe. Deshalb haben Sie sicher Verständnis dafür, dass ich meine Identität genauso verschleiern muss.«
    »Einiges werden Sie uns trotzdem über sich selbst sagen müssen, ehe ich mich von meinem Geld trenne. Sie sind Lehrer, nicht wahr?«
    »Wie kommen Sie darauf?«
    »Sie haben Kreidestaub am Ärmel, und an der Innenseite Ihres Ringfingers ist rote Tinte zu sehen.«
    Henderson, wenn ich ihn denn so nennen soll, lächelte kurz und zeigte dabei unregelmäßige, fleckige Zähne. »Es tut mir leid, dass ich Sie korrigieren muss, aber eigentlich bin ich Zollinspektor. Ich benutze Kreide, um die Waren zu kennzeichnen, ehe sie entladen werden, und trage die Nummern dann mit roter Tinte in unsere Verzeichnisse ein. Ich habe früher im Zollamt von Chatham gearbeitet, bin dann aber nach London gegangen, weil ich dachte, das wäre gut für meine Karriere, aber in Wirklichkeit hat es mich fast ruiniert. Was kann ich Ihnen sonst noch über mich sagen? Ich stamme ursprünglich aus Hampshire, und meine Eltern wohnen da immer noch. Ich bin verheiratet, habe meine Frau aber schon seit längerer Zeit nicht mehr gesehen. Ich bin ein elendes Wrack, und obwohl ich gern andere für mein Unglück verantwortlich machen würde, muss ich am Ende doch zugeben, dass ich an allem selbst schuld bin. Und was noch schlimmer ist: Es gibt kein Zurück. Ich würde meine Mutter umbringen für Ihre zwanzig Pfund, Mr. Holmes. Es gibt nichts, was ich nicht tun würde.«
    »Und was ist die Ursache Ihres Ruins, Mr. Henderson?«
    »Geben Sie mir noch einen Brandy?«
    Ich goss ihm ein zweites Mal ein, und diesmal musterte er das Glas einen Augenblick, ehe er es hinunterstürzte. »Opium«, sagte er. »Das ist mein dunkles Geheimnis. Ich bin süchtig. Am Anfang habe ich geraucht, weil ich es mochte, jetzt kann ich ohne Opium nicht mehr leben. Es fing damit an, dass ich meine Frau in Chatham ließ, um sie später nachzuholen,

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