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Das Geheimnis des weißen Bandes

Das Geheimnis des weißen Bandes

Titel: Das Geheimnis des weißen Bandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anthony Horowitz
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noch der Schlüssel. Wie konnte ich den in seine Hand bringen? Als ich mich im Salon in der Baker Street umsah, fiel mir die Antwort ins Auge: genau das Buch, über das wir erst vor kurzem so ausführlich gesprochen hatten, The Martyrdom of Man von Winwood Reade. Was wäre natürlicher, als meinem Freund etwas zu lesen zu schicken, solange er im Gefängnis war? Was konnte unschuldiger sein?
    Der Band war in Leder gebunden und ziemlich dick. Als ich ihn untersuchte, stellte ich fest, dass es gar kein Problem war, den Schlüssel in den Hohlraum zwischen dem Buchrücken und dem Buchblock mit den bedruckten Seiten zu schieben. Dies getan, nahm ich eine Kerze und ließ von beiden Seiten ein paar Tropfen flüssiges Wachs in den Spalt rinnen, wodurch der Schlüssel in seiner Lage fixiert wurde. Trotzdem ließ das Buchsich weiterhin mühelos öffnen, und es gab keinen sichtbaren Hinweis darauf, dass es manipuliert worden war. Dann nahm ich einen Federhalter und schrieb auf das Frontispiz: Sherlock Holmes, 122b Baker Street. Auch das war unschuldig genug, aber Sherlock Holmes würde natürlich sofort merken, dass es meine Handschrift und die Hausnummer unserer Wohnung falsch war. Abschließend schlug ich die Seite 122 auf und benutzte einen Bleistift, um mit winzigen, mit dem bloßen Auge kaum sichtbaren Pünktchen einzelne Buchstaben im Text zu markieren, dergestalt, dass eine neue Nachricht entstand: Große Gefahr. Man will Sie ermorden. Benutzen Sie Schlüssel zur Zelle. Ich warte. JW
    Hochzufrieden mit meiner Arbeit ging ich zu Bett und sank in einen unruhigen Schlaf. Immer wieder tauchten das Bild des in seinem Blute liegenden Mädchens vor mir auf, das weiße Band am Handgelenk ihres ermordeten Bruders und der kahle Schädel des Mannes, der an seinem Refektoriumstisch mit mir gegessen hatte.
     
    Am nächsten Morgen erwachte ich früh und schickte Lestrade eine Nachricht. Ich bat darum, er möge mir zu einem Besuch in Holloway verhelfen, egal ob Harriman einverstanden war oder nicht.
    Zu meiner Überraschung erhielt ich die Antwort, ich könne das Gefängnis am Nachmittag um drei besuchen, Inspektor Harriman habe seine Ermittlungen beendet und die Verhandlung beim Coroner sei tatsächlich für Donnerstag angesetzt worden. Das war in zwei Tagen. Auf den ersten Blick erschien mir das wie eine gute Nachricht. Aber dann stieß ich auf eine weitaus schlimmere Erklärung: Wenn Harriman Teil der Verschwörung war, wie Holmes vermutete und wie sein Verhalten es nahelegte, dann hatte er womöglich ganz andere Gründe, mirden Besuch zu gestatten. Mein Gesprächspartner von gestern Abend hatte behauptet, die Verschwörer würden nie zulassen, dass Holmes vor Gericht aussagen könnte. Waren die Mörder womöglich schon bereit zuzuschlagen? Wusste Harriman, dass mein Rettungsversuch schon zu spät kam?
    Ich konnte mich den ganzen Vormittag kaum zurückhalten und verließ die Baker Street lange vor der angegebenen Zeit. An der Camden Road in Holloway traf ich eine halbe Stunde zu früh ein. Der Kutscher ließ mich in der kalten Nebelluft vor dem Eingangstor stehen und ratterte trotz meiner Proteste davon. In gewisser Weise konnte ich’s ihm nicht verdenken. Es war kein Ort, an dem eine christliche Seele gern lange verweilte.
    Das Gefängnis war im gotischen Stil erbaut, ausladend und unheilvoll, wie ein Schloss aus einem Märchen für ungezogene Kinder. Es bestand aus Kalkstein, ein Ensemble aus Türmchen, Schornsteinen, Fahnenmasten und zinnenbewehrten Mauern. Den Mittelpunkt bildete ein hoch aufragender Turm, der an jenem Tag fast in den Nebelschwaden verschwand. Ein schlammiger, ungepflasterter Weg führte zum Haupteingang, der offenbar bewusst möglichst abweisend gestaltet war. Er bestand aus einem massiven Balkentor und einem eisernen Fallgitter, eingerahmt von ein paar kahlen, dürren Bäumen. Eine mindestens fünf Meter hohe Mauer aus Ziegelsteinen umgab das gesamte Gelände, aber ich konnte dahinter einen der Seitenflügel mit zwei Reihen kleiner, vergitterter Fenster erkennen, deren strenge Einförmigkeit nur allzu deutlich zeigte, wie elend und leer das Leben dahinter sein musste.
    Das Zuchthaus war am Fuß eines Abhangs erbaut worden, und dahinter sah man die Bäume, Weiden und Hügel von Highgate aufsteigen. Aber das war eine andere Welt, so als hätte man auf der Bühne versehentlich das falsche Panorama heruntergelassen. Das Zuchthaus Holloway stand auf dem Geländeeines ehemaligen Friedhofs, und der Geruch des Todes

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