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Das Geheimnis des weißen Bandes

Das Geheimnis des weißen Bandes

Titel: Das Geheimnis des weißen Bandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anthony Horowitz
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hing immer noch an den Mauern: ein Leichentuch für die Insassen und eine Warnung für alle, die draußen waren.
    Die halbe Stunde, die ich vor dem Tor im trüben Licht warten musste, war schrecklich. Mein Atem stand frostig vor meinem Mund, und die Kälte kroch mir an den Beinen hoch. Schließlich machte ich mich zum Eingang auf. Ich umklammerte das Buch mit dem darin verborgenen Schlüssel, und als ich das Gefängnis betrat, wurde mir plötzlich bewusst, dass ich bald selbst hier zu Hause sein könnte, wenn meine Konterbande entdeckt wurde. Ich glaube, ich habe in Gesellschaft von Sherlock Holmes zumindest dreimal das Gesetz gebrochen, immer in bester Absicht, aber das jetzt war der Höhepunkt meiner kriminellen Karriere. Merkwürdigerweise war ich nicht im Geringsten nervös. Ich kam gar nicht auf die Idee, dass etwas misslingen könnte. All meine Gedanken waren auf das Unglück meines Freundes gerichtet.
    Ich klopfte an eine unauffällige Pforte neben dem Haupttor, die alsbald von einem überraschend munteren Beamten in blauer Uniform geöffnet wurde, der an seinem Gürtel etliche Schlüssel trug. »Kommen Sie rein, Sir. Kommen Sie rein. Drinnen ist es angenehmer als draußen, und es gibt nicht viele Tage im Jahr, an denen man das sagen kann.«
    Ich sah zu, wie er die Tür hinter uns wieder zuschloss, dann folgte ich ihm über den Hof zu einer zweiten Tür, die etwas kleiner, aber nicht weniger gut gesichert war als die erste. Schon jetzt wurde ich mir einer unheimlichen Stille innerhalb der Gefängnismauern bewusst. Eine zerzauste schwarze Krähe hockte auf einem kahlen Baum, aber sonst war keine Spur von Leben zu sehen. Der Himmel wurde jetzt immer dunkler, und da im Inneren noch keine Lichter brannten, hatte ich das Gefühl, mich in einer Schattenwelt zu bewegen, in der es fast keine Farbe gab.
    Wir gingen durch einen Korridor und eine offene Tür und traten in einen kleinen Raum mit einem Schreibtisch, zwei Stühlen und einem Fenster, das direkt auf eine Ziegelmauer hinaussah. Auf der einen Seite stand ein Schrank, in dem etwa fünfzig Schlüssel an Haken hingen. Mir gegenüber stand eine große Uhr, und ich bemerkte, dass der Minutenzeiger sich sehr bedächtig und ruckartig bewegte, so als wollte er das langsame Vergehen der Zeit für diejenigen unterstreichen, die sich hier aufhalten mussten. Direkt darunter saß ein Mann, der die gleiche Uniform trug wie der Pförtner, aber mit sehr viel mehr Gold an der Mütze und an den Schultern. Er war schon etwas älter, und sein kurz geschnittenes Haar war genauso stahlgrau wie seine Augen. Als er mich sah, stand er eilig auf und kam um den Schreibtisch herum.
    »Dr. Watson?«
    »Ja.«
    »Mein Name ist Hawkins. Ich bin der Chief Warder. Sie wollen Mr. Holmes besuchen?«
    »Ja«, sagte ich, während eine böse Vorahnung mich überfiel.
    »Ich muss Ihnen leider sagen, dass er heute Morgen krank geworden ist. Ich kann Ihnen versichern, dass wir alles getan haben, um seinen Aufenthalt hier so erträglich wie möglich zu machen. Das versteht sich wohl bei einem Mann seines Ansehens, trotz des schweren Verbrechens, dessen er beschuldigt wird. Von den anderen Gefangenen haben wir ihn ferngehalten. Ich habe ihn mehrfach persönlich besucht und hatte das Vergnügen, mich mit ihm zu unterhalten. Seine Krankheit kam sehr überraschend, und wir tun natürlich alles, um seine Genesung zu fördern.«
    »Was fehlt ihm?«
    »Das wissen wir eben nicht. Er hat um elf Uhr sein Mittagessen verzehrt, und sofort danach hat er um Hilfe gerufen. Meine Beamten haben ihn zusammengekrümmt auf dem Boden der Zelle gefunden. Er hatte offenbar starke Schmerzen.«
    Ich spürte ein eisiges Zittern bis tief ins Herz. Das war genau das, was ich gefürchtet hatte. »Wo ist er jetzt?«, fragte ich.
    »Auf der Krankenstation. Unser Gefängnisarzt, Dr. Trevelyan, hat ein paar Privaträume, die er für dringende Fälle bereithält. Nachdem er Mr. Holmes untersucht hatte, bestand er darauf, ihn dorthin zu verlegen.«
    »Ich muss sofort zu ihm. Ich bin selbst Mediziner«, sagte ich.
    »Natürlich, Dr. Watson. Ich habe nur auf Sie gewartet, um Sie persönlich zu ihm zu bringen.«
    Aber noch ehe wir gehen konnten, entstand eine Bewegung hinter mir, und ein Mann, den ich nur allzu gut kannte, versperrte den Weg. Falls man Inspektor Harriman die Nachricht schon überbracht hatte, schien er nicht allzu überrascht. Seine Haltung war sogar eher lässig. Er lehnte im Türrahmen, und seine Aufmerksamkeit schien zur

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