Das Geheimnis des weißen Bandes
allein an diesem riesigen Tisch und stocherte im Kerzenlicht in seinem Essen herum. Dann schloss sich die Tür. Abgesehen von einer zufälligen kurzen Begegnung an der Victoria Station ein Jahr später habe ich ihn nie wieder gesehen.
15
Holloway
Die Rückfahrt nach London war in mancher Hinsicht eine fast noch schlimmere Prüfung als meine Entführung. Bei der Abfahrt aus London war ich ein Gefangener in der Hand von Leuten gewesen, von denen ich nicht wusste, was sie mir antun wollten, und das Ziel meiner Reise war ebenso unbestimmt wie die Dauer. Jetzt wusste ich zwar, dass ich nach Hause zurückkehren würde und nur ein paar Stunden aushalten musste, aber ich fand nicht zur Ruhe. Holmes sollte ermordet werden! Die Kräfte, die sich verschworen hatten, ihn ins Gefängnis zu bringen, waren noch nicht zufrieden, und nur sein Tod würde ihnen genügen.
Den Schlüssel, den ich erhalten hatte, umklammerte ich so fest, dass man von dem Abdruck, den er in meiner Hand hinterließ, ohne weiteres eine Kopie hätte machen können. Mein einziger Gedanke war, so schnell wie möglich nach Holloway zu fahren, Holmes vor der Bedrohung zu warnen und bei seiner Befreiung zu helfen. Aber wie sollte ich zu ihm gelangen? Inspektor Harriman hatte schon deutlich gemacht, dass er alles tun würde, um uns nicht zusammenkommen zu lassen. Mycroft wiederum hatte gesagt, dass ich ihn nur unter den allerdringendsten Umständen erneut kontaktieren solle, und das waren doch wohl solche Umstände? Aber wie weit reichte sein Einfluss? Und würde es nicht längst zu spät sein, wenn er mir endlich eine Besuchserlaubnis verschafft hätte?
Diese Gedanken rasten mir durch den Kopf, während dieKutsche endlos durch die Nacht rumpelte und mir Underwood stumm gegenübersaß. Was die Sache noch schlimmer machte, war das Bewusstsein, dass man mich täuschte. Mit Sicherheit fuhr die Kutsche im Kreis, um die Entfernung zwischen der Baker Street und dem düsteren Herrenhaus, wohin man mich eingeladen hatte, viel größer erscheinen zu lassen, als sie tatsächlich war. Was mich besonders ärgerte, war der Gedanke daran, dass Sherlock Holmes an meiner Stelle die verschiedenen Wahrnehmungen, die auch in der geschlossenen Kutsche möglich waren, genau registriert hätte. Er hätte sich den Glockenschlag eines Kirchturms, das Pfeifen einer Lokomotive, den Geruch von fauligem Wasser, die wechselnden Straßenbeläge unter den Rädern und vielleicht sogar die Richtung des Windes, der an den undurchsichtigen Fenstern rüttelte, gemerkt und am Ende der Reise eine komplette Landkarte zeichnen können. Ich war dieser Herausforderung nicht gewachsen und konnte nur darauf warten, dass mir der Schimmer der Gaslaternen bestätigte, dass wir zurück in der Stadt waren. Eine halbe Stunde später verlangsamte sich der Hufschlag der Pferde, dann hielten wir mit einem Ruck und Underwood stieß die Tür auf. Ich sah hinaus, und auf der anderen Straßenseite erkannte ich mein altes, vertrautes Quartier.
»Sicher wieder zu Hause, Dr. Watson«, sagte Underwood. »Ich bitte nochmals um Entschuldigung, dass ich Sie inkommodieren musste.«
»Ich werde Sie gewiss nicht vergessen, Mr. Underwood«, erwiderte ich.
Er zog die Augenbrauen hoch. »Mein Herr hat Ihnen meinen Namen genannt? Wie merkwürdig.«
»Vielleicht möchten Sie mir ja seinen nennen.«
»Oh, nein, Sir. Ich bin mir völlig bewusst, dass ich nur ein Klecks auf der Leinwand bin. Im Vergleich zu seiner Größe istmein Leben nur von geringer Bedeutung, aber ich hänge doch sehr daran, und deshalb würde ich mich hüten, etwas zu tun, was es entscheidend abkürzen könnte. Ich wünsche Ihnen eine recht gute Nacht.«
Ich kletterte hinaus. Er gab dem Kutscher ein Zeichen, und ich sah zu, wie er davonratterte, ehe ich ins Haus eilte.
An Schlaf war nicht zu denken in dieser Nacht. Ich hatte schon angefangen, darüber nachzudenken, wie ich Holmes den Schlüssel und eine Warnung zukommen lassen könnte, falls man mir, wie ich fürchtete, weiterhin nicht gestatten würde, ihn zu besuchen. Ein Brief, das wusste ich, würde nichts nützen. Unsere Feinde waren überall, und es schien sehr wahrscheinlich, dass er abgefangen würde. Und wenn sie merkten, dass ich ihre Absichten kannte, würden sie womöglich noch schneller zuschlagen.
Trotzdem konnte ich ihm eine Nachricht zukommen lassen – ich brauchte nur einen Code. Aber wie konnte ich ihn darauf hinweisen, dass es da etwas gab, das zu dechiffrieren war? Außerdem war da
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