Das Geheimnis des weißen Bandes
idealistisch sind als ich. Es gibt so etwas wie einen Ehrenkodex der Kriminellen, und manche meiner Bekannten nehmen ihn schrecklichernst. Ich kann das sogar verstehen. Was habe ich denn für ein Recht, meine Mit-Kriminellen zu verurteilen? Ich will ja von ihnen auch nicht verurteilt werden.«
»Sie haben Holmes einen Hinweis geschickt.«
»Das war eine ganz impulsive Entscheidung, was eher ungewöhnlich bei mir ist und zeigt, wie wütend ich auf diese Leute war. Trotzdem war es ein Kompromiss, das Mindeste, was ich tun konnte unter den Umständen. Wenn es ihn dazu brachte, Nachforschungen anzustellen, konnte ich mich mit dem Gedanken trösten, dass ich ihm ja nur einen ganz kleinen Hinweis gegeben hatte. Und wenn er es ignorierte, war kein großer Schaden entstanden, und ich brauchte mir nichts vorzuwerfen. Trotzdem war ich sehr enttäuscht, als er sich entschloss, nichts weiter zu unternehmen. Ich bin fest überzeugt, dass die Welt ohne das House of Silk ein besserer Ort wäre. Und ich hoffe sehr, dass es noch dahin kommt. Deshalb habe ich Sie heute hierher eingeladen.«
»Wenn Sie mir die entscheidenden Informationen nicht geben können, was können Sie mir denn dann geben?«
»Das hier.« Er schob mir etwas über den Tisch. Als er die Hand zurückzog, sah ich einen kleinen Messingschlüssel.
»Was ist das?«, fragte ich.
»Der Schlüssel zu seiner Zelle.«
»Was?« Ich hätte fast laut aufgelacht. »Sie erwarten, dass Holmes aus dem Gefängnis flüchtet? Ist das Ihr großer Plan? Sie wollen, dass ich ihm dabei helfe, aus Holloway auszubrechen?«
»Ich weiß nicht, warum Sie die Vorstellung so amüsant finden. Ich kann Ihnen versichern, dass es keine vernünftige Alternative dazu gibt, Dr. Watson.«
»Nun, demnächst steht ja die Verhandlung beim Coroner an. Da wird sich die Wahrheit schon zeigen.«
Sein Gesicht verdunkelte sich. »Sie haben offenbar immernoch keine Vorstellung davon, mit was für Leuten Sie es hier zu tun haben, und ich frage mich allmählich, ob ich nicht meine Zeit mit Ihnen verschwende. Ich will es Ihnen ganz klar sagen: Sherlock Holmes wird das Zuchthaus nicht lebend verlassen. Die Verhandlung beim Coroner ist für Donnerstag angesetzt, aber Holmes wird nicht daran teilnehmen. Seine Feinde werden das nicht erlauben. Sie werden ihn noch im Gefängnis umbringen.«
Ich war entsetzt. »Wie denn?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Vergiften oder Strangulieren wäre das Einfachste. Aber es gibt auch hundert Unfälle, die sie arrangieren könnten. Ohne Zweifel werden sie eine Methode finden, die den Tod natürlich erscheinen lässt. Aber eins können Sie mir glauben: Der Befehl dazu ist schon erteilt worden. Seine Zeit läuft ab.«
Ich griff nach dem Schlüssel. »Wo haben Sie den her?«
»Das ist völlig unwichtig.«
»Dann sagen Sie mir, wie ich ihm den Schlüssel geben soll. Man lässt mich ja nicht zu ihm vor.«
»Dafür müssen Sie selbst sorgen. Ich kann nicht mehr für Sie tun, ohne mich selbst in übermäßiger Weise zu exponieren. Sie haben ja Inspektor Lestrade auf Ihrer Seite. Reden Sie mit dem.« Er stand abrupt auf und stieß seinen Stuhl weg. »Ich glaube, es gibt nicht mehr viel zu sagen. Je schneller Sie in die Baker Street zurückkehren, desto schneller wird Ihnen klar werden, was Sie jetzt tun müssen.« Er entspannte sich etwas und setzte sich wieder. »Nur eins will ich noch hinzufügen: Sie können sich gar nicht vorstellen, was für eine Freude es für mich war, Sie kennenzulernen. Ich beneide Holmes darum, dass er so einen treuen Biographen an seiner Seite hat. Ich habe auch ein paar sehr interessante Geschichten erlebt, die ich der Öffentlichkeit gerne mitteilen würde, und ich würde Ihre Dienste gernirgendwann mal in Anspruch nehmen. Nein? Nun, es war ja nur ein Gedanke. Aber abgesehen von diesem Treffen, das völlig geheim bleiben muss, halte ich es für nicht ganz ausgeschlossen, dass ich irgendwann in einer Ihrer Erzählungen als Figur auftauche. Ich hoffe sehr, dass Sie mir gerecht werden.«
Das waren seine letzten Worte an mich. Möglicherweise hatte er ein verborgenes Signalsystem installiert, denn im selben Augenblick ging die Tür auf und Underwood erschien. Ich trank hastig mein Glas aus, denn ich hatte das Gefühl, ich würde den Wein für die Schrecken der Rückreise brauchen. Dann steckte ich den Schlüssel ein und stand auf. »Vielen Dank«, sagte ich.
Er gab keine Antwort. An der Tür warf ich noch einen Blick zurück. Mein Gastgeber saß
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