Das Geheimnis des weißen Bandes
mir nicht gesagt, wer Sie sind«, sagte ich. »Haben Sie die Absicht, mir zu erklären, was Sie sind?«
»Ich bin Mathematiker, Dr. Watson. Es ist keine Großtuerei, wenn ich sage, dass meine Arbeiten über den Binomischen Lehrsatz in den meisten Universitäten Europas gelesen werden. Darüber hinaus bin ich auch das, was Sie ohne Zweifel einen Verbrecher nennen würden, obwohl ich meine Tätigkeit mehr für eine Wissenschaft halte. Ich versuche jedenfalls, mir die Hände nicht schmutzig zu machen. Diese Dinge überlasse ich Underwood und seinesgleichen. Man könnte sagen, ich bin ein abstrakter Denker. In seiner reinsten Form ist schließlich auch das Verbrechen eine abstrakte Sache, ähnlich wie die Musik. Ich orchestriere. Andere übernehmen die Ausführung.«
»Und was wollen Sie von mir? Warum haben Sie mich herbringen lassen?«
»Abgesehen von der Freude, Sie kennenzulernen? Ich will Ihnen helfen. Oder, um genauer zu sein, und es überrascht mich selbst, mich das sagen zu hören: Ich will Mr. Holmes helfen. Es war sehr bedauerlich, dass er den Hinweis nicht beachtet hat, als ich ihm vor zwei Monaten eine kleine Erinnerung schicken ließ, damit er die Angelegenheit untersucht, die ihm jetzt solchen Kummer bereitet. Vielleicht hätte ich etwas direkter sein sollen.«
»Was haben Sie ihm denn geschickt?«, fragte ich, aber ich wusste schon, was er meinte.
»Ein weißes Band.«
»Sie gehören zum House of Silk!«
»Ich habe nicht das Geringste damit zu tun!« Zum ersten Mal klang mein Gastgeber ärgerlich. »Bitte enttäuschen Sie mich nicht mit Ihren törichten Syllogismen! Die können Sie sich für Ihre Bücher aufheben.«
»Aber Sie wissen offenbar, worum es sich handelt.«
»Ich weiß alles. Jede Missetat in diesem Land wird mir gemeldet, egal wie groß oder klein sie auch sein mag. Ich habe Agenten in jeder Stadt und jeder Straße. Das sind meine Augen. Sie sind immer geöffnet, sie blinzeln nicht einmal.« Ich wartete, aber als er fortfuhr, schien er das Thema gewechselt zu haben. »Sie müssen mir etwas versprechen, Dr. Watson. Sie müssen mir schwören, bei allem, was Ihnen heilig ist, dass Sie weder Holmes noch sonst irgendjemand von diesem Treffen erzählen. Sie dürfen erst recht nicht darüber schreiben. Wenn Sie jemals meinen Namen erfahren sollten, müssen Sie so tun, als ob Sie ihn zum ersten Mal hören und er Ihnen nichts weiter bedeutet.«
»Und woher wissen Sie, ob ich mich an das Versprechen halte?«
»Ich weiß, Sie sind ein Mann, der sich an sein Wort hält.«
»Und wenn ich mich weigere?«
Er seufzte. »Ich muss Ihnen sagen, dass Ihr Freund sich in großer Gefahr befindet. Wenn Sie nicht tun, was ich sage, wird er in den nächsten achtundvierzig Stunden tot sein. Ich bin der Einzige, der Ihnen helfen kann, aber ich werde es nur zu meinen Bedingungen tun.«
»Dann akzeptiere ich sie.«
»Schwören Sie?«
»Ja.«
»Wobei?«
»Bei meiner Ehe.«
»Das reicht nicht.«
»Bei meiner Freundschaft zu Holmes.«
Er nickte. »Jetzt verstehen wir uns.«
»Dann sagen Sie mir: Was ist das House of Silk? Wo finde ich es?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich wünschte, ich könnte es, aber ich fürchte, das muss Holmes selbst herausfinden. Warum? Nun ja, zum einen, weil ich weiß, wie fähig er ist, und weil ich mich darauf freue, ihn bei der Arbeit zu sehen. Je mehr ich über ihn weiß, desto weniger Sorgen muss ich mir seinetwegen machen. Aber es gibt noch ein anderes, grundsätzlicheres Problem. Ich habe vorhin gesagt, ich wäre ein Krimineller, aber was genau bedeutet das eigentlich? Genau genommen geht es um ein paar Regeln, die zwar unsere Gesellschaft bestimmen, die ich aber hinderlich finde und deshalb ignoriere. Ich kenne viele sehr angesehene Bankiers und Rechtsanwälte, die Ihnen genau dasselbe sagen würden. Es ist alles eine Frage des Maßstabs. Und ich bin kein Monster, Dr. Watson. Kinder ermorden – das würde ich niemals tun. Ich halte mich für einen zivilisierten Menschen, und es gibt noch einige andere Regeln, die ich für unverletzlich halte.
Was also soll ein Mann wie ich tun, wenn er eine Clique entdeckt, eine Gruppe von Männern, deren Verhalten und deren kriminelle Energie alles übersteigt, was er für akzeptabel hält? Ich könnte Ihnen sagen, wer sie sind und wo man sie findet. Ich hätte das auch schon der Polizei sagen können. Aber das hätte meinem Ruf bei denen geschadet, die für mich arbeiten. Und die brauche ich nun einmal, auch wenn sie weniger
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