Das Geheimnis des weißen Bandes
Jenseits starrten, wie mir schien.In einem anderen Bett lag eine zitternde, zusammengekrümmte Gestalt. Holmes konnte das nicht sein, dazu war der Kranke zu klein.
Ein Mann in einem abgetragenen und geflickten Gehrock erhob sich von seinem Arbeitsplatz, um uns zu begrüßen. Ich hatte den Eindruck, ich müsste ihn kennen, so wie mir auch sein Name bekannt vorgekommen war, wie ich jetzt merkte. Er war blass und ausgezehrt, mit einer schweren Brille und einem blonden Backenbart, der auf seinem Gesicht vor sich hin welkte. Ich vermutete, dass er Anfang vierzig war, dass ihn aber die Erfahrungen seines Lebens und eine nervöse Disposition niederdrückten und älter erscheinen ließen. Mit den schlanken weißen Fingern seiner Rechten umklammerte er das Handgelenk seiner Linken. Er hatte offenbar etwas geschrieben, Zeigefinger und Daumen waren mit Tinte befleckt.
»Ich habe Ihnen nichts Neues zu berichten, Sir«, sagte er zu Mr. Hawkins. »Außer, dass ich noch immer das Schlimmste befürchte.«
»Das ist Dr. Watson«, sagte Hawkins.
»Dr. Trevelyan«, sagte der Arzt und schüttelte meine Hand. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen, wenn die Umstände auch äußerst bedauerlich sind.«
Ich war mir jetzt sicher, den Mann zu kennen. Aber seine Worte und sein fester Händedruck schienen mir signalisieren zu sollen, dass er nicht wünschte, dass eine frühere Begegnung thematisiert werde.
»Ist es eine Lebensmittelvergiftung?«, fragte Harriman. Er hatte es nicht für nötig befunden, sich vorzustellen.
»Ich bin mir sicher, dass es sich um eine Vergiftung dieser oder jener Art handelt«, sagte Dr. Trevelyan. »Wie sie ihm beigebracht worden ist, kann ich nicht sagen. Aber das ist ja auch nicht meine Aufgabe.«
»Beigebracht?«, fragte Harriman.
»Alle Gefangenen in seinem Flügel haben dieselbe Nahrung erhalten. Aber er war der Einzige, der davon krank wurde.«
»Wollen Sie unterstellen, dass Fremdverschulden vorliegt?«
»Ich habe gesagt, was ich gesagt habe, Sir.«
»Also, ich glaube kein Wort davon. Ich habe eigentlich so etwas erwartet, Herr Doktor. Wo ist Mr. Holmes?«
Trevelyan zögerte, und der Wärter trat vor. »Das ist Inspektor Harrimann, Dr. Trevelyan. Er ist für Ihren Patienten verantwortlich.«
»Solange er sich auf meiner Krankenstation befindet, bin ich für meinen Patienten verantwortlich«, gab der Arzt scharf zurück. »Aber es gibt keinen Grund, warum Sie ihn nicht sehen sollten. Ich muss Sie allerdings bitten, ihn nicht zu stören. Ich habe ihm ein Sedativum gegeben, und es ist sehr wahrscheinlich, dass er schläft. Er befindet sich in einem Nebenzimmer. Ich hielt es für besser, ihn getrennt von den anderen Gefangenen unterzubringen.«
»Dann lassen Sie uns jetzt keine Zeit mehr verlieren.«
»Rivers!«, rief Trevelyan einem schlaksigen Burschen mit hängenden Schultern zu, der nahezu unsichtbar in einer Ecke den Boden gefegt hatte. Er trug eine Uniform, die mehr an einen Pfleger als an einen Gefängnisangestellten erinnerte. »Die Schlüssel, bitte!«
»Ja, Dr. Trevelyan.« Rivers humpelte zum Schreibtisch hinüber, nahm einen Schlüsselbund heraus und trug ihn zu einer Tür auf der anderen Seite des Krankensaals. Er schien irgendwie behindert zu sein, denn er zog ein Bein hinter sich her. Er sah missmutig und primitiv aus, und sein rotes Haar hing ungepflegt bis auf die Schultern herunter. Vor der Tür ins Nebenzimmer blieb er stehen und suchte in aller Ruhe nach dem passenden Schlüssel.
»Rivers ist mein Krankenwärter«, erklärte Trevelyan leise. »Er ist ein bisschen schlicht, aber sehr zuverlässig. Er kümmert sich nachts um die Krankenstation.«
»Hat er mit Holmes geredet?«, fragte Harriman misstrauisch.
»Rivers redet selten mit irgendjemandem, Mr. Harriman. Und Holmes hat überhaupt nichts gesagt, seit er hier auf der Station ist.«
Endlich hatte Rivers den richtigen Schlüssel gefunden und drehte ihn um. Ich hörte das Schloss knirschen, dann sprang es auf. Schließlich mussten noch zwei Riegel zurückgezogen werden, ehe sich die Tür endgültig öffnen ließ. Endlich wurde ein kleiner, klösterlicher Raum sichtbar, mit kahlen, weiß gestrichenen Wänden, einem quadratischen Fenster, einem Bett und einem Eimer.
Das Bett war leer.
Mit einem Wutschrei sprang Harriman hinein, riss die Bettdecke weg, kniete sich auf den Boden, um unter das Bett zu schauen. Es gab keinen Ort, um sich zu verstecken. Das Gitter vor dem Fenster war unberührt. »Ist das ein Trick?«,
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