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Das Geheimnis des weißen Bandes

Das Geheimnis des weißen Bandes

Titel: Das Geheimnis des weißen Bandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anthony Horowitz
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Hälfte auf einen goldenen Ring fixiert, der an seiner Hand glänzte. Wie immer war er ganz in Schwarz gekleidet und führte auch einen schwarzen Spazierstock mit sich. »Was ist hier eigentlich los, Hawkins?«, fragte er. »Sherlock Holmes soll angeblich krank sein?«
    »Schwer krank«, erwiderte Hawkins.
    »Das bedaure ich sehr!« Harriman richtete sich auf. »Sind Sie sicher, dass er nicht simuliert? Als ich heute Morgen mit ihm gesprochen habe, war er noch völlig gesund.«
    »Sowohl der Gefängnisarzt als auch ich haben ihn untersucht, und ich muss leider sagen, dass er ernsthaft krank ist. Wir sind gerade auf dem Weg zu ihm.«
    »Dann werde ich Sie begleiten.«
    »Ich muss protestieren –«
    »Mr. Holmes ist mein Gefangener und Gegenstand meiner Ermittlungen«, sagte Harriman böse lächelnd. »Sie können protestieren, so viel Sie wollen, aber wir machen das genau so, wie ich sage.«
    Hawkins warf mir einen nervösen Blick zu, und ich wusste, dass er zwar ein anständiger Kerl war, aber nicht wagen würde, einen Streit mit Harriman anzufangen.
    Zu dritt machten wir uns auf den Weg in die Tiefen des Gebäudes. Innerlich war ich so durcheinander, dass ich mich kaum noch an Einzelheiten erinnere, aber der allgemeine Eindruck war der von schweren Steinplatten, Eisentüren, die sich quietschend öffneten und krachend hinter uns zufielen, und Fenstern, die zu klein und zu hoch an den Wänden waren, als dass man hätte hinaussehen können. Neben den Türen, die für uns geöffnet wurden, gab es Hunderte andere, die alle gleich aussahen und alle verschlossen blieben, von denen man aber ahnte, dass dahinter eine kleine Facette des menschlichen Elends weggesperrt worden war. Das Gefängnis war erstaunlich warm und erfüllt vom Geruch nach Haferschleim, alten Kleidern und Seife. An verschiedenen Kreuzungspunkten sahen wir Wärter, die Wache standen, aber abgesehen von zwei alten Männern, die mit einem Wäschekorb kämpften, blieben die Gefangenen unsichtbar. »Manche sind jetzt beim Hofgang, einige sind in der Tretmühle und andere beim Wergzupfen«, erwiderte Hawkins auf eine Frage, die ich gar nicht gestellt hatte. »Der Tag beginnt und endet sehr früh hier.«
    »Wenn Holmes vergiftet worden ist, muss er sofort ins Krankenhaus«, sagte ich.
    »Vergiftet?«, warf Harriman ein. »Wer hat was von Gift gesagt?«
    »Dr. Trevelyan vermutet tatsächlich eine schwere Lebensmittelvergiftung«, entgegnete Hawkins. »Aber er ist ein guter Arzt. Er hat sicher alles getan, was ihm möglich ist …«
    Wir hatten das Ende des Mittelbaus erreicht, an dem dievier hinteren Trakte wie die Flügel einer Windmühle ansetzten. Der mehrere Stockwerke hohe Raum, in dem wir uns befanden, war mit Sandsteinplatten aus Yorkshire gepflastert. Eine eiserne Wendeltreppe führte zu einer umlaufenden Galerie. Über unseren Köpfen war ein Netz gespannt, damit niemand etwas herabwerfen konnte. Ein paar Männer in grauer Gefangenenkleidung sortierten einen Stapel Kleidung, der vor ihnen auf einem Tisch lag. »Das ist für die Kinder der Emanuel School«, sagte Hawkins. »Die Sachen werden hier hergestellt.«
    Wir gingen durch einen Torbogen und dann eine mit einem Läufer bedeckte Treppe hinauf. Inzwischen hatte ich keinerlei Vorstellung mehr, wo ich war, und hätte bestimmt nicht hinausgefunden. Ich dachte an den versteckten Schlüssel, den ich immer noch mit mir herumtrug. Selbst wenn ich ihn Holmes hätte geben können, was hätte er ihm genutzt? Er hätte ein Dutzend Schlüssel und einen detaillierten Bauplan des Gebäudes gebraucht, um aus dem Gefängnis herauszukommen.
    Vor uns lag jetzt eine weiß gestrichene hölzerne Doppeltür mit eingelassenen Glasscheiben. Auch sie musste aufgeschlossen werden, aber danach öffnete sie sich in einen kahlen, sehr sauberen Krankensaal, der zwar keine Fenster, aber einige hoch gelegene Oberlichter besaß. Auf den beiden Tischen in der Mitte brannten schon einige Kerzen, denn draußen war es mittlerweile fast dunkel. Zwei Reihen von jeweils vier Betten standen sich gegenüber. Die Decken waren blauweiß kariert, und die Kopfkissen waren mit gestreiftem Baumwollstoff bezogen. Der Raum erinnerte mich sofort an mein altes Armeelazarett, wo ich so oft hatte zusehen müssen, wie Kranke und Verwundete starben – ohne zu klagen und mit derselben Disziplin, die auf dem Schlachtfeld von ihnen erwartet wurde. Nur zwei der Betten waren belegt, eines von einem ausgedörrten, kahlköpfigen Mann, dessen Augen schon ins

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