Das Geheimnis meiner Mutter
einmal, zweimal – und neigte ihren Kopf. Die winterlichen Wälder waren voller unerwarteter Geräusche – dem Knacken von eisbedeckten Ästen, dem dumpfen Aufschlagen, wenn sie auf das schneebedeckte Dach fielen, dem Rascheln von Rehen, die zwischen den Bäumen nach Nahrung suchten.
Sie trat ans Fenster und schaute hinaus, sah aber nur ein weites weißes Feld. Sie stellte den Herd an und setzte einen Kessel Wasser für Tee auf. Ohne die Wärme des Ofens wurde es im Zimmer sehr schnell kalt.
Endlich hörte sie Rourke vor der Tür den Schnee von den Stiefeln stapfen. Sie rannte zur Tür und öffnete sie. „Gott sei Dank, du bist …“
Aber es war nicht Rourke. Es war jemand mit einer Skimaske, der eine Waffe auf sie gerichtet hatte. Sie verspürte den flüchtigen, hysterischen Drang zu lachen. Eine Waffe? Das sah sie nicht wirklich, oder? Dann kam Leben in den Fremden. Er schob sie beiseite und schloss die Tür. Ihr Gehirn war wie erstarrt. Sie konnte nicht denken. „Was ist hier los?“, platzte es aus ihr heraus. „Wo zum Teufel kommen Sie her?“
Der Eindringling erwiderte nichts, schaute sich aber schnell im Raum um. Sie erlaubte sich nicht, sich ebenfalls umzuschauen, ob irgendwo ein Kleidungsstück oder etwas anderes herumlag, das verriet, dass sie die Nacht nicht alleine verbracht hatte. Rourke trug eine geliehene Jacke. Seine Sachen, inklusive seiner Waffe, lagen im Nebenzimmer.
Endlich sprach der Fremde. „Setzen Sie sich“, sagte er und zeigte auf den Stuhl mit der Holzlehne. Aus einer Tasche seiner dunklen Hose holte er ein Paar Handschellen. Guter Gott, dachte sie. War er ein Polizist? Sie dachte über die Anrufe nach, die sie nach Entdeckung der Diamanten getätigt hatte – Laura, Rourkes Deputy, Olivia, Nina. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Man plapperte nicht einfach aus, dass man ein Vermögen in Diamanten gefunden hatte. Irgendwie war diese Information in die falschen Hände geraten.
Sie setzte sich, ihr Blick hing wie gebannt an der schwarz behandschuhten Hand, die die Waffe hielt. Parallel dachte sie an Rourke und die Geräusche, die sie vor ein paar Minuten gehört hatte. Irgendetwas war passiert. Und wo war der Hund? Sie schaute wieder auf die Waffe, und ihr Magen zog sich vor Angst zusammen. Wenn er könnte, wäre Rourke längst hier, dachte sie. Sie stand kurz davor, den Fremden anzuflehen, doch sie vermutete, dass theatralisches Getue ihn nicht sonderlich beeindrucken würde. Ihr Bauchgefühl verriet ihr, was er wollte.
„Bringen wir es schnell hinter uns“, schlug sie mit überraschend ruhiger Stimme vor, als er sich ihr mit den Handschellen näherte. Sie sprang auf, was ihn so erschreckte, dass er ihr die Waffe ins Gesicht stieß. Erstaunlicherweise blieb Jenny trotzdem fokussiert. Als wenn nichts passiert wäre, ging sie zum Küchentresen und zeigte ihm die Untertasse, auf der die Diamanten lagen. Sie klapperten ein wenig, weil ihre Hand zitterte. „Deswegen sind Sie doch hier, oder? Vielleicht war meine Mutter bereit, dafür zu sterben. Ich bin es nicht.“
„Stellen Sie das hin“, sagte der Eindringling.
Die Stimme kam ihr vage bekannt vor, aber sie konnte sie nicht einordnen. Sie stellte die Untertasse wieder auf den Tresen und trat einen Schritt zurück. Ihr Angreifer zog einen Handschuh aus und nahm einen der Steine in die Hand. Er sah nach nicht viel aus. „Das sind alle, die ich gefunden habe“, sagte sie. Die Sekunden schienen sich endlos in die Länge zu ziehen, und jede einzelne zerrte schmerzhaft an ihrem Herzen. Rourke, dachte sie, wo bist du?
Unbewusst warf sie einen Blick zur Schlafzimmertür und bemerkte ihren Fehler erst, als der Mann sprach. „Er kann Ihnen jetzt nicht helfen.“
Also wusste er es, hatte Rourke gesehen. „Wo ist er?“, wollte sie wissen. „Was …“
„Setzen Sie sich“, wiederholte der Fremde seinen Befehl.
Als sie sich in Richtung Stuhl begab, fühlte Jenny, wie etwas in ihr kalt und fest wurde. Dieser Mann wollte die Diamanten. Vielleicht war er derjenige, der wegen dieser Steine schon ihre Mutter umgebracht hatte. Vielleicht war er der Mann, der sie ihrer Kindheit beraubt hatte, die Quelle aller quälenden unbeantworteten Fragen über Mariska. Jenny spürte, wie sie zu einer anderen Person wurde. Zu jemandem, der härter und wütender und ja, auch stärker war als dieser Pistolenmann. Ihr ganzes Leben lang hatte sie das Richtige getan, ein sicheres Leben geführt, getan, was man ihr sagte. Der Eindringling nahm
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