Das Geheimnis meiner Mutter
an, sie würde seinen Kommandos Folge leisten. Doch da hatte er sich verrechnet. Wovor sollte sie jetzt noch Angst haben? Rourke hatte ihr beigebracht, dass zu kämpfen die beste Verteidigung war. Zu kämpfen und niemals aufzugeben.
Anstatt sich also hinzusetzen, ging sie in die Hocke und warf sich dann mit einem Satz auf den Fremden. Ihr Knie traf ihn direkt in den Unterleib, ein Manöver, das Rourke ihr mal gezeigt hatte.
Sein Oberkörper klappte vornüber, und sie hörte, wie er die Luft ausstieß. Das nächste Ziel wären seine Augen gewesen, aber er fiel nach hinten, außer Reichweite, und Jenny behielt nur die Skimaske in der Hand. Sein Gesicht war ganz weiß und schmerzverzerrt, beinahe so weiß wie seine blonden Haare.
„Matthew“, sagte sie. Anfangs schien das keinen Sinn zu ergeben. Und dann wurde alles klar. Er hatte von ihrem Fund gehört und war gekommen, um sich die Diamanten zu holen. Wie ein Holzkopf hatte sie erst Laura davon erzählt und dann in der ganzen Stadt Nachrichten hinterlassen in ihrem Versuch, Nina oder Rourke zu erreichen. Sie erinnerte sich auch an ihren Besuch bei Zach zu Hause und an das Geständnis des Jungen bezüglich der Spielschulden seines Vaters. Sie hatte entschieden, Rourke nichts davon zu erzählen, aber jetzt wusste sie, dass sie genau das hätte tun sollen. Rourke hätte eine Lösung gefunden, bevor es zu diesem Szenario gekommen wäre. Trotzdem, sie hatte nicht wissen können – niemand hätte es wissen können –, dass Matthew sich zu so einer Verzweiflungstat hinreißen lassen würde.
Sein Atem ging schwer, er war immer noch weiß vor Schmerz, dennoch blieb sein Arm ruhig, als er die Waffe wieder auf sie richtete. Einen Moment lang schaute sie wie erstarrt das schwarze, kalte Auge der Mündung an. „Nimm die Diamanten und geh“, sagte sie. Sie wollte sich dringend auf die Suche nach Rourke machen. „Sie sind mir nicht wichtig. Aber bitte, geh jetzt.“
„Das kann ich nicht. Nun nicht mehr.“
Sie hatte sein Gesicht gesehen. Er würde sie nicht davonkommen lassen. „Matthew“, sagte sie. „Ich weiß es.“ Sie musste ihn ablenken, ein wenig das Tempo aus der Situation nehmen. „Aber … sag mir, was mit meiner Mutter passiert ist. Das frage ich mich schon mein ganzes Leben.“
„Sie ist von der Meerskill-Brücke gefallen.“ Seine Stimme klang grauenerregend sachlich.
Jenny sah ihre Mutter förmlich vor sich, wie sie fiel, mit wedelnden Armen und Beinen, dann der Aufprall auf den Felsen am Fuß des Wasserfalls. „Hast du sie geschubst?“, wollte sie wissen und spürte Übelkeit erregenden Hass auf ihn in sich aufsteigen.
„Ich sagte doch, sie ist gefallen.“ Die Waffe zitterte ein wenig.
Gut, dachte sie. Er ist aufgeregt. Vielleicht würde das seine Konzentration schwächen.
„Mariska liebte es auszugehen, und sie feierte gerne. Eines Abends hat sie wegen der Diamanten die Katze aus dem Sack gelassen. Das ist Jahre her. Eines führte zum anderen, und dann sind wir zur Brücke gegangen. Sie war betrunken und fiel, und da ich der Einzige war, der dabei war, habe ich Panik gehabt, dass die Leute denken würden, ich hätte etwas damit zu tun.“
Es muss ihn in den Wahnsinn getrieben haben, sie zu verlieren, bevor sie ihm sagen konnte, wo sie die Diamanten versteckt hat, dachte Jenny. Sie tat so, als würde sie die Waffe gar nicht beachten. „Also hast du sie in die Höhle … geschleppt.“
„Es war ein Unfall“, beharrte er.
Sie atmete tief ein, und der Geruch des Hemdes, das sie trug, stieg ihr in die Nase. Rourkes Geruch. „Okay“, sagte sie. „Wie auch immer.“ Dann hob sie ihre Hände in einer Geste der Kapitulation und hielt sie ihm hin.
In dem Moment, in dem er nach den Handschellen griff, schlug sie mit beiden Fäusten zu und traf seinen Kiefer so hart, dass sie spürte, wie die Haut auf ihren Fingerknöcheln aufplatzte. Vielleicht war sogar ein Knochen gebrochen. Dann rannte sie ins Schlafzimmer. Sie wusste, dass sie nur wenige Sekunden Zeit hatte. Gerade als sie Rourkes Waffe entsichert hatte und herumschwang, taumelte er durch die Tür.
Anvisieren, dann schießen, hat Rourke gesagt. Es gab nur ein winzig kleines Zeitfenster. Sie richtete die Waffe auf ihn. Das war ihre Chance. Sie könnte ihn gleich hier erschießen. Sie sah Matthews Hand nach oben kommen, sah den auf sie gerichteten Lauf. Sie drückte ab. Er heulte auf und torkelte rückwärts. Seine Waffe war fort. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war, und hoffte nur, dass
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