Das Geheimnis meiner Mutter
schneller die Untersuchungen abgeschlossen sind, desto schneller kann das Bergungsteam mit der Arbeit beginnen.“
„Bergungsteam. Das klingt alles so surreal.“ Ihr Magen zog sich mit einem Mal nervös zusammen, und sie erinnerte sich an etwas. „Du hast gesagt, dass du meine Sachen gewaschen hast?“
„Ja. Ich glaube, die Maschine ist gerade fertig geworden.“
„Oh Gott.“ Sie sprang auf, rannte in die kleine Waschküche neben der Küche und öffnete die Maschine.
„Was ist los?“ Er war ihr gefolgt und schaute sie nun neugierig an.
Sie riss die Bäckerhose raus, die sie angehabt hatte, wühlte mit der Hand in den Hosentaschen und holte schließlich die kleine braune Plastikflasche heraus. Das Label war noch ganz, aber die Flasche war komplett mit milchigem Wasser gefüllt. Sie reichte sie Rourke.
Er nahm das Fläschchen und warf einen Blick auf das Etikett. „Sieht so aus, als hätten sich alle Tabletten aufgelöst.“
„Du hast nun die ruhigste, abgeklärteste Waschmaschine in ganz Avalon.“
„Ich wusste nicht, dass du Tabletten nimmst.“
„Was, hast du gedacht, ich würde Grannys Tod ohne Hilfe meistern?“
„Äh, ja.“
„Warum glaubst du, dass ich das schaffen würde?“
Er stellte das Fläschchen auf die Arbeitsplatte in der Küche. „Weil du es jetzt tust. Und den ganzen Morgen schon. Ich sehe dich nicht ausflippen.“
Sie zögerte, stützte sich mit den Händen Halt suchend am Tresen ab. Dann fiel ihr auf, dass diese Position ihre Brüste in dem engen Sweatshirt betonte, und sie verschränkte die Arme. In der Nacht, in der Granny gestorben war, hatte der Arzt sie gefragt, wie verunsichert sie sich auf einer Skala von eins bis zehn fühlte. Er hatte sie gebeten, sich diese Frage jedes Mal zu stellen, bevor sie eine Tablette nahm, damit es nicht zu einer Gewohnheit wurde.
„Ich bin eine Fünf“, sagte sie leise und spürte schon das kaum wahrnehmbare Summen in ihrem Kreislauf, die leichte Anspannung ihrer Muskeln. Keine Schweißausbrüche, kein erhöhter Pulsschlag, kein Hyperventilieren.
„Ich weiß, dass das nicht deine Klamotten sind“, sagte Rourke. „Aber ich würde sagen, du bist mindestens eine Sieben.“
„Haha.“ Sie nahm sich noch eine Orange. „Der Arzt hat gesagt, dass ich mich immer selber fragen soll, wie angespannt ich auf einer Skala von eins bis zehn bin, um so meinen Bedarf an Medikamenten bewusst abzuwägen.“
Rourke sah sie fragend an. „Also wenn du eine Fünf bist, heißt das, dass wir schnellstmöglich zur nächsten Notfallapotheke fahren sollten?“
„Nein. Nicht bevor ich mich wie eine Acht oder höher fühle. Ich bin mir nicht sicher, warum ich nicht panischer bin. Nach allem, was passiert ist, ist es ein Wunder, dass ich noch keinen Nervenzusammenbruch hatte.“
„Wie? Möchtest du das gerne?“
„Natürlich nicht, aber es wäre normal zusammenzubrechen, oder?“
„Ich glaube, bei so einem Verlust gibt es kein ‚Normal‘. Du fühlst dich im Moment einigermaßen gut. Lassen wir es dabei.“
Sie spürte etwas hinter seinen Worten. Ein bestimmtes Wissen, als hätte er selber Erfahrungen auf diesem Gebiet.
Die Morgenluft fühlte sich eiskalt und dennoch gut auf ihrem Gesicht an, als sie ihm nach draußen folgte. Er hatte den Hunden noch Futter und Wasser hingestellt und die Heizung in der ans Haus grenzenden Garage angestellt, sodass sie sich aufwärmen konnten, wenn es ihnen draußen zu kalt wurde. Er schloss das Gartentor hinter sich und öffnete dann mit einer galanten Geste die Beifahrertür des Ford Explorer, auf der ein rundes Wappen mit einem Wasserrad an die Vergangenheit Avalons als Mühlenstadt erinnerte. Darunter stand „Avalon P.D.“
Nachdem sie eingestiegen war, ging er um das Auto herum, setzte sich auf den Fahrersitz und startete den Motor. „Anschnallen“, sagte er. Er bemerkte, dass sie ihn anschaute, und sie fragte sich, ob er ahnte, dass sie darüber nachdachte, was für ein Rätsel er für sie war. Der erste Mensch, der es schaffte, sie von ihrer Trauer um Granny abzulenken. Doch sicherlich benahm er sich ihr gegenüber nur so ritterlich, weil er der Polizeichef war. Das würde er für jeden anderen Bürger der Stadt auch tun.
„Bist du sicher, dass es dir gut geht?“, fragte er. „Du schaust mich schon wieder so komisch an.“
Sie merkte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss, und schaute schnell weg. Sie sollte verzweifelt sein, weil sie nun nicht nur ihre Großmutter, sondern auch ihr Haus verloren
Weitere Kostenlose Bücher