Das Geheimnis meiner Mutter
hatte. Stattdessen hatte sie unkeusche Gedanken über den Polizeichef. Bitte, lass mich nicht so sein, dachte sie.
„Abgesehen von den Klamotten geht es mir gut“, sagte sie.
Er atmete tief durch. „Okay, konzentrieren wir uns auf den heutigen Tag. Auf jetzt. Wir gehen die Dinge eines nach dem anderen an.“
„Ich bin ganz Ohr. Weißt du, ich weiß nicht, was jetzt zu tun ist, habe keine Ahnung, was passiert, nachdem ein Haus abgebrannt ist.“
„Du fängst neu an“, sagte er. „Das ist es, was zu tun ist.“
Seine Worte berührten etwas in ihr. Zum ersten Mal seit Grannys Tod fing sie an, die Situation in einem neuen Licht zu sehen. Versunken in Trauer hatte sie sich nur auf die Tatsache konzentriert, dass sie jetzt alleine war. Rourkes Kommentar hatte ihr eine neue Sichtweise geschenkt. Aus allein wurde unabhängig . Ein Gefühl, das sie nicht kannte. Als ihr Großvater gestorben war, hatte man sie in der Bäckerei gebraucht. Nach dem Schlaganfall ihrer Großmutter war sie zu Hause benötigt worden. Ihren eigenen Weg zu gehen war nie eine Option gewesen … bis jetzt. Doch da gab es auch einen Gedanken, der so fürchterlich war, dass sie wünschte, ihn vor sich selber verstecken zu können – sie hatte Angst davor, unabhängig zu sein. Denn wenn sie jetzt versagte, wäre es ganz alleine ihr Fehler.
Auch wenn sie am Vortag schon hier gestanden und zugesehen hatte, wie ihr Haus brannte, sogar die Wärme des Feuers gespürt hatte, überrollte sie eine neue Schockwelle, als sie aus dem Auto stieg. Nun, wo die Menschen, Ausrüstungen und Feuerwehrwagen fort waren, ragte nur noch ein schwarzes Skelett aus dem zertrampelten, überfrorenen Boden.
„Was ist mit der Garage passiert?“, fragte sie.
„Ein Löschfahrzeug ist rückwärts dagegengefahren“, erklärte er. „Wir hatten Glück, dass wir dein Auto noch rechtzeitig herausholen konnten.“
Den Verlust der Garage realisierte sie kaum. Er schien so unbedeutend im Vergleich mit allem anderen. Sie konnte nur den Kopf schütteln.
„Es tut mir leid“, sagte er und tätschelte ihr ein wenig unbeholfen die Schulter. „Der Brandermittler wird bald hier sein, und dann kannst du dich umsehen.“
Ein unangenehmer Schauer überlief sie. „Meinst du, das Feuer ist absichtlich gelegt worden?“
„Das ist das übliche Vorgehen. Wenn der Brandermittler nichts herausfindet, wird er einen Spezialisten zu Hilfe rufen, der sich mit Brandstiftung auskennt. Der Mann von der Versicherung hat gesagt, sie werden bald hier sein. Als Erstes wird er dir eine Abschlagszahlung geben, damit du das Notwendigste besorgen kannst.“
Sie nickte, auch wenn sie bei seinen Worten eine Gänsehaut bekam. Ein gelbschwarzes Band sperrte das Grundstück ab.
Ihr Heim so zu sehen war, wie Salz in eine offene Wunde zu streuen. Es war nur noch eine groteske Mutation seiner ursprünglichen Form. Gegen den blassen Morgenhimmel erhob es sich wie eine Kohlezeichnung. Die Veranda, die sich einst wie ein weißes Lächeln über die Vorderseite des Hauses erstreckt hatte, war nun schwarz und bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Ein paar dürre Balken ragten in verrückten Winkeln in den Garten. Es gab keine Vordertür mehr. Alle verbliebenen Fenster waren zerborsten.
Die Leitungen bildeten eine seltsame, an den Terminator erinnernde Form, von der alles andere weggebrannt war. In den verkohlten Ruinen konnte Jenny die Küche ausmachen – das Herz des Hauses. Ihre Großeltern waren bescheidene Menschen gewesen, aber sie hatten sich einen doppeltürigen Kühlschrank und einen doppelten Backofen gegönnt. Vor mehr als fünf Jahrzehnten hatte Granny ihre ersten zum Verkauf bestimmten Backwaren genau in dieser Küche hergestellt.
Der Großteil des Obergeschosses war heruntergekommen, und Teile des Erdgeschosses waren in den Keller abgesackt. Jenny konnte mitten hindurch bis zum Zaun auf der Rückseite des Grundstücks schauen, das nun eine weiße Schneefläche war, die sich über den Gemüsebeeten leicht wölbte. Ihr ganzes Leben lang war der Garten Grannys Stolz gewesen. Nach dem Schlaganfall hatte Jenny sich sehr bemüht, ihn so zu erhalten, wie es sich gehörte – eine prächtige und kunstvolle Fülle von Blumen und Gemüse.
Das mit Hochdruck aus den Feuerwehrschläuchen geschossene Wasser hatte den Garten in glatten, bogenförmigen Schneisen durchschnitten. Der Wassernebel hatte am hinteren Zaun Eiszapfen entstehen lassen, wodurch der Garten nun mehr einer Skulpturenausstellung
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