Das Geheimnis meiner Mutter
Kopfsteinpflasterstraßen und gut erhaltenen historischen Gebäude der Altstadt drängten sich um einen öffentlichen Park, dessen schneebedeckte Grünflächen und Spielfelder bis zum Ufer des Schuyler River reichten, der auf beruhigende Weise über die glitzernden eisbedeckten Steine rauschte und dabei Eiszapfen hinterließ.
Gestresste Großstädter träumten davon, in eine Stadt wie diese zu kommen, um sich ein wenig zu entspannen. Manche kauften sich sogar einen halben oder einen Hektar Grund und setzten sich hier zur Ruhe. Im Sommer und während der Zeit im Herbst, wenn die Laubbäume ihr prächtiges Farbenspiel zeigten, drängten sich aus Deutschland importierte SUVs, protzige Hummer und spätpubertäre Sportwagen auf den Straßen, die einst nur Traktoren und die eine oder andere Pferdekutsche gekannt hatten.
Es gab hier immer noch unberührte Ecken, wo die Wildnis so dicht war wie vor Hunderten von Jahren. Wälder und Seen und Flüsse, die versteckt in den endlos erscheinenden Bergen lagen. Von der Spitze des Watch Hill – auf dem jetzt ein Mobilfunkmast stand – hatte man das Gefühl, direkt in den Wald zu schauen, in dem Natty Bumppo aus „Der letzte Mohikaner“ gejagt hatte. Jenny fand es immer wieder erstaunlich, dass sie sich nur wenige Autostunden von New York City entfernt befanden.
Sie drehte dem Fenster den Rücken zu und schaute sich in dem Schlafzimmer um. Keine persönlichen Dinge, keine Fotos oder Andenken, kein Hinweis darauf, dass er ein Leben, eine Vergangenheit oder, Gott behüte, eine Familie hatte. Auch wenn sie Rourke McKnight kannte, seitdem sie Kinder gewesen waren, zog sich ein Riss durch ihr Leben, der mehrere Jahre umspannte. Sie war noch nie zuvor in seinem Schlafzimmer gewesen. Er hatte sie nie eingeladen, und selbst wenn, hätte sie die Einladung nicht angenommen. Nicht unter normalen Umständen. Sie und Rourke waren einfach nicht so. Er war kompliziert. Ihre gemeinsame Geschichte war noch komplizierter. Sie passten nicht zusammen. Zumindest nicht auf lange Sicht.
Denn Fakt war, dass Rourke nicht nur Jenny, sondern vielen Menschen ein Rätsel war. Es war schwer, hinter dem wie gemeißelt aussehenden Kinn und den durchdringenden Augen den Mann zu sehen, der dahintersteckte. Er war eine vielschichtige Persönlichkeit, auch wenn Jenny annahm, dass dies nur wenigen Menschen bewusst war. Er faszinierte die Menschen, so viel stand fest. Diejenigen, die mit der Kommunalpolitik vertraut waren, wussten, dass er der Sohn von Senator Drayton McKnight war, der die letzten dreißig Jahre einen der reichsten Bezirke des Staates repräsentiert hatte. Und diese Leute fragten sich natürlich, warum ein Mann, der in so eine Familie hineingeboren war, ein Mann, der jedes Leben haben konnte, das er wollte, in einer kleinen Stadt in den Catskills gestrandet war und wie jeder andere auch für seinen Lebensunterhalt arbeitete.
Jenny wusste, dass sie mit ein Grund dafür war, wieso er sich hier niedergelassen hatte, auch wenn er es nicht zugeben würde. Sie war mit seinem besten Freund Joey Santini verlobt gewesen. Es hatte eine Zeit gegeben, wo jeder von ihnen von dem Leben in einer Kleinstadt geträumt hatte, von Freundschaft, die ein Leben lang hielt, und Loyalität, die niemals verraten wurde. Waren sie wirklich so naiv gewesen?
Weder Rourke noch Jenny sprachen je über das, was passiert war. Jeder arbeitete hart daran, so zu tun, als sei es am besten, diese Dinge dort zu lassen, wo sie passiert waren: in der Vergangenheit.
Aber natürlich hatte keiner von ihnen vergessen können. Die merkwürdige Spannung zwischen ihnen, das bemühte Meiden des anderen waren dafür Beweis genug. Jenny war sicher, selbst wenn sie hundert Jahre alt würde, würde sie es niemals vergessen. Es gab nicht vieles, dessen sie sich sicher war, aber das war eines davon. Sie würde sich immer an die Nacht mit Rourke erinnern, aber sie würde ihn niemals verstehen.
Die Dusche wurde abgestellt, und ein paar Minuten später kam er mit einem Handtuch um die Hüften in sein Schlafzimmer. Die feuchten Haare fielen ihm in die Stirn. Er sah wirklich unglaublich gut aus. Gut über eins achtzig groß, mit breiten Schultern und schmalen Hüften. Er hatte ein Gesicht, das Frauen die Telefonnummern ihrer Freunde vergessen ließ. Jennys beste Freundin, Nina Romano, sagte immer, er wäre viel zu gut aussehend, um nur ein Kleinstadtpolizist zu sein. Mit dem kantigen Kinn, den glimmenden blauen Augen und der oh so eindrucksvollen
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