Das Geheimnis meiner Mutter
noch ein Häufchen Asche war.
Beim Gedanken daran, alles rekonstruieren zu müssen, sackten ihre Schultern nach unten.
„Sie ist Autorin“, erklärte Rourke dem Ermittler.
„Wirklich?“ Der Mann schien fasziniert. „Was Sie nicht sagen. Was schreiben Sie denn?“
Jenny wurde verlegen. Das passierte immer, wenn Leute nach ihrer Schreiberei fragten. Ihr Traum war so groß, so unmöglich, dass sie manchmal das Gefühl hatte, ihn gar nicht haben zu dürfen. Sie, das ungebildete Mädchen aus einer Kleinstadt, wollte Schriftstellerin sein. Es war eine Sache, eine wöchentliche Backkolumne zu veröffentlichen und heimlich von etwas Größerem, Besserem zu träumen. Aber eine ganz andere, ihre Träume einem Fremden gegenüber einzugestehen.
„Ich schreibe eine Rezeptkolumne für eine örtliche Zeitung“, murmelte sie.
„Komm schon, Jen“, drängte Rourke. „Du hast immer gesagt, dass du eines Tages ein Buch schreiben wirst. Einen Bestseller.“
Sie konnte nicht glauben, dass er sich daran erinnerte – geschweige denn, dass er es ausgerechnet jetzt und vor diesem fremden Mann laut aussprach.
„Ich arbeite daran“, sagte sie kurz angebunden und mit hochroten Wangen.
„Ja? Dann werde ich zukünftig im Laden die Augen aufhalten“, erwiderte der Schadenregulierer.
„Da können Sie lange gucken“, erklärte sie ihm kläglich. „Bisher bin ich noch nicht veröffentlicht worden.“ Sie bedachte Rourke mit einem brennenden Blick. Plappermaul. Was dachte er sich dabei, ihre Träume vor einem komplett Fremden auszubreiten?
Sie nahm an, dass er sie einfach nicht ernst nahm. Dass er dachte, ein Schneeball hätte bessere Chancen gehabt, das gestrige Feuer hier zu überleben, als sie, einen Verlag zu finden. Sie war Besitzerin einer Bäckerei in einem kleinen Städtchen in den Bergen. Sie würde vermutlich immer eine Bäckereibesitzerin bleiben, die, über die Buchhaltung des Ladens gebeugt oder hinter dem Verkaufstresen stehend, alt und krumm wurde. Vielleicht lernte sie sogar noch, die Kunden mit „Süße“ und „Kleine“ anzusprechen.
„Was ist denn?“, wollte Rourke wissen, nachdem der Versicherungsmann zu seinem Wagen zurückgekehrt war. „Was soll dieser Blick?“
„Das mit dem Buch hättest du dir ruhig sparen können.“
„Warum?“ Sein harmloser Gesichtsausdruck machte sie nur noch wütender. „Worüber regst du dich so auf?“
„Bestseller“, murmelte sie. „Wie dumm würde es wohl aussehen, wenn ich überall herumlaufen und sagen würde ‚Ich schreibe einen Bestseller‘?“
Er sah ernsthaft verwirrt aus. „Was stimmt denn daran nicht?“
„Das ist total überheblich und anmaßend. Ich schreibe, in Ordnung? Das ist alles. Es liegt allein in den Händen der Menschen, die Bücher kaufen, eines davon zum Bestseller zu machen.“
„Das ist doch Haarspalterei. Davon bekomme ich Kopfschmerzen. Du hast mir mal erzählt, dass es ein Traum von dir ist, einmal ein Buch zu veröffentlichen.“
Er verstand es wirklich nicht. „Es ist ein Traum“, sagte sie mit Nachdruck. „ Der Traum.“
„Ich wusste nicht, dass es so ein großes Geheimnis ist.“
„Das ist es auch nicht. Es ist aber auch nichts, was ich jedem gleich auf die Nase binde. Es ist … für mich ist es etwas Heiliges. Ich muss es nicht in die Welt hinausposaunen.“
„Ich verstehe nur nicht, warum nicht.“
„Weil … wenn es nicht passiert, stehe ich da wie der letzte Idiot.“
Er warf den Kopf in den Nacken und lachte aus vollem Herzen.
Sie konnte sich noch sehr gut an sich erinnern, wie sie frisch aus der Schule kommend jedem erzählt hatte: „Das nächste Mal, wenn du mein Gesicht siehst, wird es auf der Rückseite eines Buches sein.“ Und sie hatte wirklich daran geglaubt. „Das ist kein Witz“, sagte sie angespannt.
„Lass mich dir eine Frage stellen.“ Er schaute sie an. „Wann hast du das letzte Mal gedacht, dass jemand ein Idiot ist, weil er seine Träume verfolgt?“
„So denke ich nicht.“
Er lächelte. In seinen Augen lag eine solche Wärme, dass sie spürte, wie ihr Widerstand dahinschmolz. „Jenny. Niemand denkt so. Und je mehr Menschen du von deinem Traum erzählst, desto realer wird er dir vorkommen.“
Sie konnte nicht anders. Sie musste das Lächeln erwidern. „Du klingst wie eine Grußkarte.“
Er lachte unterdrückt. „Erwischt. Das stand auf der Karte, die ich zu meinem letzten Geburtstag erhalten habe.“
Irgendwie mochte sie es, dass er die ganze Zeit bei ihr blieb.
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