Das Geheimnis meiner Mutter
Gelächter und zuschlagende Türen. Daisy fand ihren Spind, stellte die Kombination ein und öffnete die Metalltür. Der vorherige Besitzer war ein großer Hip-Hop-Fan gewesen, wie sie anhand der komplizierten, miteinander verschachtelten Graffiti auf der Innenseite der Tür sah.
Sie hängte Jacke, Schal und Handschuhe weg. Einen Augenblick lang war Daisy heute Morgen versucht gewesen, etwas Unauffälliges anzuziehen, was keine Blicke auf sich ziehen würde. Aber das war einfach nicht ihr Stil. Der einzige Vorteil an diesem Schulwechsel mitten im Jahr war, dass sie das erste Mal in ihrem Leben auf eine Schule gehen würde, in der es keine strikte Kleiderordnung gab. Sie gedachte, diesen Vorteil voll auszunutzen, und so trug sie heute eine sehr auf Hüfte geschnittene Jeans und einen bauchfreien Pullover mit Schottenmuster, der eine ihrer vielen Rebellionen gegen ihre Eltern betonte: ein Bauchnabelpiercing. Sie hatte keine Ahnung, ob die Dorftrottel hier ihre Rock & Republic-Jeans oder den Pringle-of- Scotland-Pullover zu schätzen wussten, aber wenigstens fühlte sie sich gut darin.
Sie ging zu Raum 247, schlenderte an den anderen Schülern vorbei und blieb vor dem Lehrerpult stehen.
Dieser Kerl sollte ein Lehrer sein? Er sah kaum alt genug dafür aus in seinen leicht zerknitterten Khakihosen, dem ungebügelten blauen Hemd und der süßen, aber völlig schief hängenden Paisley-Krawatte.
„Daisy Bellamy“, sagte sie und reichte ihm die Mappe, die sie von der Frau im Büro erhalten hatte.
„Anthony Romano.“ Der Lehrer stand auf und schenkte ihr ein warmes Lächeln. „Willkommen an der Avalon High.“ Er hatte den Charme eines Welpen, mit diesen großen braunen Augen und seiner beflissenen Art. „Soll ich dich den anderen Schülern der Klasse vorstellen?“
Zumindest besaß er die Höflichkeit zu fragen. Und er schien so freundlich, dass sie es nicht über sich brachte, seine Seifenblase zum Platzen zu bringen. Also nickte sie – sie konnte es genauso gut hinter sich bringen – und drehte sich zu dem lauten, geschäftigen Klassenzimmer um.
„Hey, hört mal“, sagte Mr Romano mit überraschend autoritärer Stimme. Er unterstrich seine Aufforderung, indem er an die Tafel klopfte. „Wir haben heute eine neue Schülerin.“
Die Worte „neue Schülerin“ funktionierten wie Magie. Jedes Augenpaar im Raum richtete sich auf Daisy. Sie tat einfach so, als würde sie in einer Schulaufführung mitmachen. Sie schauspielerte, seitdem sie mit vier Jahren einen Engel in einem Weihnachtsmärchen hatte spielen dürfen. Letztes Jahr war sie Auntie Mame im Frühlingsmusical gewesen. Es fiel ihr nicht schwer, sich die Klasse als Zuschauer eines Stücks vorzustellen und sie mit einem höflichen Lächeln zu begrüßen.
„Das hier ist Daisy Bellamy. Bitte heißt sie willkommen und zeigt ihr alles, okay?“
„Bellamy, wie die Camp-Kioga-Bellamys?“, fragte jemand.
Daisy war überrascht, dass der Name Bellamy hier eine Bedeutung hatte. In der Stadt musste man ein Rockefeller sein oder den Namen einer Bekleidungsfirma oder Hotelkette tragen, damit die Kids einen für etwas Besonderes hielten. Sie nickte. „Das sind meine Großeltern.“
Der Name Kioga beschwor Bilder des Familienanwesens in den Bergen außerhalb der Stadt herauf, das einst berühmt gewesen war als Ort der Sommerfrische für reiche New Yorker. Das Camp war vor langer Zeit geschlossen worden, gehörte aber immer noch der Familie. Daisy war nur einmal dort gewesen, im letzten Sommer. Sie hatte ihrer Cousine Olivia geholfen, alles für die Feier zur Goldenen Hochzeit der Großeltern herzurichten.
„Daisy, warum setzt du dich nicht gleich hierhin, zwischen Sonnet und Zach.“ Mr Romano zeigte auf einen Collegestuhl, der die Schreibplatte auf der rechten Seite angebracht hatte. Auf der einen Seite saß ein blonder Junge und auf der anderen ein afroamerikanisches Mädchen mit Wangenknochen wie ein Supermodel und verrückt lackierten Nägeln.
„Gott sei Dank“, sagte Sonnet. „Jetzt muss ich ihn nicht länger angucken.“
„Hey“, warnte Mr Romano.
„Schon gut.“ Sonnet lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und verschränkte die Arme.
Daisy erwartete, dass der Lehrer sie hinauswerfen würde – das wäre an ihrer alten Schule so gewesen –, aber stattdessen drehte er ihr den Rücken zu und fing an, etwas an die Tafel zu schreiben.
„Kolache?“, fragte der Junge namens Zach.
Daisy merkte, dass er mit ihr sprach und ihr ein goldbraunes
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