Das Geheimnis meiner Mutter
anders.“
„Aber auf gute Art anders“, versicherte ihr Daisy.
„Sie hat mir mal erzählt, dass sie gerade ein Buch mit Shakespeares Sonetten gelesen hat, als die Wehen einsetzten.“ In Sonnets samtbraune Augen trat ein weicher Ausdruck, den Daisy nicht entziffern konnte.
„Und dein Nachname ist also Romano, wie der Lehrer“, bemerkte sie nach einem Blick auf den Namen, der auf Sonnets Heft gekritzelt war. „Zufall?“
„Er ist mein Onkel Tony“, erklärte Sonnet. „Der Bruder meiner Mutter.“
Sie sehen überhaupt nicht verwandt aus, dachte Daisy, aber sie sagte nichts. „Wie ist das so, in der Klasse des Onkels zu sein?“
„Ich bin daran gewöhnt. In Avalon gibt es Massen von Romanos, und die Hälfte davon sind Lehrer, also ist es schwer, ihnen aus dem Weg zu gehen.“
„Dann trägst du also den Nachnamen deiner Mutter, nicht deines Vaters.“ Daisy hoffte, dass sie damit kein heikles Thema ansprach.
Offensichtlich nicht, denn Sonnet antwortete ganz normal. „Meine Mom ist Single. Sie hat meinen Dad nicht geheiratet.“
„Oh.“ Daisy wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Sie war allerdings ziemlich sicher, dass ein „Das tut mir leid“ nicht angebracht war. Sie ließ ihren Blick über die Menge schweifen. „Kommt es mir nur so vor, oder gibt es alleine auf diesem Flur drei Lehrer, die Romano heißen?“
Sonnet schenkte ihr ein klägliches Lächeln. „Das ist nur die Spitze des Eisbergs. Romanos sind überall. Manche sagen, dass das der Grund ist, warum meine Mutter zur Bürgermeisterin gewählt wurde. Sie hat acht Geschwister.“ Sie machte eine kleine Pause. „Und du?“, fragte sie dann. „Wie sind deine Eltern so?“
Geschieden war das erste Wort, das Daisy in den Sinn kam. „Meine Mutter kommt ursprünglich aus Seattle, aber sie hatte einen Sommerjob im Camp Kioga, bei dem sie meinen Dad kennengelernt hat. Sie haben sehr jung geheiratet und sich gegenseitig durch das Studium geholfen – Jura und Architektur. Alles sah so aus, als ob es funktionieren würde. Sie bekam einen Job in einer internationalen Kanzlei, und mein Dad hat ein Büro für Landschaftsarchitektur eröffnet. Dann ist die beste Freundin meiner Mutter aus Seattle letztes Jahr an Krebs erkrankt, und meine Mutter hatte so eine Art Offenbarung. Sie hat gesagt, sie würde nur so tun, als wäre sie glücklich oder so’n Scheiß, aber um wirklich glücklich zu werden, bräuchte sie die Scheidung.“ Daisy seufzte. Die ganze Situation ermüdete sie einfach nur. Wie sie überhaupt alles in letzter Zeit ermüdete. „Mir ist das eigentlich egal, denn ich muss ja nicht mehr lange zu Hause wohnen. Für Max, meinen kleinen Bruder, ist es allerdings hart.“
„Wie kommt es, dass du und dein Bruder bei deinem Vater lebt?“
„Meine Mom arbeitet an einem Fall am Internationalen Gerichtshof in Den Haag, Holland.“
Wie sich herausstellte, war Sonnet die beste erste Freundin, die man an dieser Schule haben konnte. Sie hatten zwei gemeinsame Kurse, und Sonnet stellte Daisy einer ganzen Menge anderer Schüler vor. Einige beäugten sie misstrauisch, aber die meisten waren eigentlich ganz nett. Daisy war jedoch ein wenig überfordert damit, sich alles zu merken.
Im Geschichtsunterricht behandelten sie alte Bestattungsrituale und sprachen über Steinhaufen, die früher genutzt wurden, um Gräber zu markieren und Aasfresser davon abzuhalten, sich an den Leichnamen gütlich zu tun.
In der Mittagspause gesellte Zach sich zu ihnen. Die Cafeteria war groß, mit hohen Fenstern, die ganz beschlagen waren wegen der auf Hochtouren laufenden Radiatoren. An den langen Resopaltischen saßen die Kids in kleinen Grüppchen zusammen.
„Okay“, sagte Zach. „Hier ist der Deal: Da drüben sind die Sportler. Die sind ganz in Ordnung, zumindest wenn man nichts dagegen hat, sich zu verausgaben, bis man kotzen muss. Die beliebtesten Sportarten an dieser Schule sind Eishockey und Basketball. Der Tisch da am Ende? Die Theatergruppe. Tänzer, Schauspieler, Sänger. Der Skater-Tisch spricht für sich. Hier in der Gegend sind Schlittschuhläufer und Snowboarder ein Schlag. Kannst du was davon?“
„Ich laufe Ski“, sagte Daisy.
„Dann sind die nichts für dich.“ Er ging weiter und gab ihr einen kurzen Überblick – Goths, Nerds, Eurotrash, Headbanger, Gangbanger.
Von dem Zwiebelgeruch in der Cafeteria wurde ihr ein wenig flau im Magen. Sie folgte Sonnet durch die Schlange an der Essensausgabe und nahm sich eine Schüssel mit
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