Das Geheimnis meiner Mutter
Jenny betrachtete das Gesicht ihrer Schwester und suchte, wie so oft, nach irgendeiner Ähnlichkeit zu sich. Vielleicht der Schnitt der Augen? Die Form der Wangenknochen, des Kinns, des Kiefers? Ihr Vater schwor, dass sie wie Schwestern aussahen, aber Jenny fürchtete, dass es sich dabei um reines Wunschdenken handelte. „Also, es gibt tatsächlich was, wobei du mir helfen kannst“, traute sie sich schließlich, das Schweigen zu brechen. „Ich brauche etwas zum Anziehen.“
„Stimmt. Du brauchst ja alles neu“, sagte Olivia. „Ich kann dich fahren.“
Endlich spürte Jenny es – die Erleichterung und Dankbarkeit, dass jemand da war, der sich um sie kümmern wollte. Sie ging zu Rourke hinüber. „Sind wir hier fertig?“
„Für den Moment ja. Die Ermittler werden noch ein paar Stunden zu tun haben, aber dafür brauchen sie uns nicht.“
„Okay. Ich fahre dann mit Oliv… mit meiner Schwester in die Stadt, um ein paar Sachen einzukaufen.“ Sie verspürte eine gewisse Befriedigung, es laut auszusprechen. Meine Schwester.
„Ruf mich an“, sagte er.
Es gab keine Entschuldigung, es nicht zu tun. Ihr Handy war in ihrer Handtasche und somit vor dem Feuer sicher gewesen, und Rourke hatte ihr bereits ein neues Ladegerät gekauft. Sie stieg zu Olivia ins Auto. Die beheizten Ledersitze seufzten unter ihrem Gewicht leise auf. Ein weiterer Beweis, dass die Reichen anders lebten. Sogar ihre Autos fühlten sich besonders an.
„Wo wohnst du denn im Moment?“, wollte Olivia wissen.
Jenny sagte nichts, aber der Blick in Rourkes Richtung verriet sie.
„Du wohnst bei ihm?“
„Nur übergangsweise.“
„Ich sag ja nicht, dass das verkehrt ist“, stellte Olivia richtig. „Aber … Rourke McKnight? Ich meine, wenn man sich dazu das Foto von euch beiden auf der Titelseite der Zeitung anschaut, sieht es schon … ich weiß nicht.“
„Sieht es was?“
„Na ja, nach was aus. Als wenn ihr zwei …“
„Ich und Rourke?“ Jenny schüttelte den Kopf und fragte sich, wie viel Olivia von ihrer gemeinsamen Vergangenheit wusste. „Nicht in diesem Leben.“
„Sag niemals nie. Denn das habe ich über Connor auch immer gesagt, und sieh uns jetzt an. Nächsten Sommer bin ich eine verheiratete Frau.“
„Ich denke, du bist die Einzige, die das überrascht.“
„Wie meinst du das?“
„Du und Connor, ihr seid füreinander bestimmt. Das sieht doch jeder.“
Olivia strahlte sie an. „Weißt du, du bist herzlich eingeladen, bei uns zu wohnen.“
Nimm’s nicht persönlich, dachte Jenny, aber ich würde mich lieber einer Wurzelbehandlung unterziehen. Connor wohnte auf dem schönsten Flussgrundstück der gesamten Gegend. Sie bauten darauf gerade ein Haus aus Felssteinen und Holz und romantischen Träumen, und Jenny hatte keinen Zweifel, dass eine goldene Zukunft auf die beiden wartete. Aber das Haus war erst zur Hälfte fertig, und Olivia und Connor wohnten in einem alten Wohnwagen, der auf dem Gelände stand. Nicht gerade ein idealer Ort für Übernachtungsgäste. „Das ist echt nett von dir, aber es geht schon, danke.“
„Ich kann es dir nicht verdenken. Wenn ich nicht wüsste, dass es nur für kurze Zeit ist, würde ich dort auch nicht wohnen. Connor hat versprochen, im April fertig zu werden“, sagte Olivia. „Ich rufe mir jeden Tag in Erinnerung, dass er Bauunternehmer ist. Die geben doch immer zu knappe Termine an, oder?“
„Hoffentlich nicht ihren Verlobten gegenüber“, erwiderte Jenny.
Olivia wollte gerade losfahren, da kam Nina Romano in ihrem zerbeulten Pick-up und bedeutete ihr, das Fenster herunterzulassen. Jennys beste Freundin war so bescheiden, wie sie loyal war. Sie trug oft Kleidung, die aus einem Secondhandladen in Woodstock stammen könnte, was ihr von ihren Gegnern den Namen „Happy Hippie“ eingebracht hatte. Ihre Hingabe an die Gemeinde und ihre ernsthafte Art, mit der sie die Dinge anging, machten sie jedoch so beliebt, dass sie zur Bürgermeisterin gewählt worden war.
„Ich habe gehört, dass du bei Rourke eingezogen bist“, sagte sie ohne lange Vorrede. Sie schielte in den Wagen. „Hallo, Olivia.“
Olivia schenkte ihr ein Lächeln. „Ich liebe das Leben in einer Kleinstadt. Es gibt immer genügend Themen, über die man reden kann.“
„Ich bin nicht bei Rourke eingezogen“, widersprach Jenny. Eine leichte Röte überzog ihre Wangen.
„Da hab ich aber was ganz anderes gehört“, sagte Nina. „Hör mal zu, er hat mich mitten in der Nacht in der Bäckerei
Weitere Kostenlose Bücher