Das Geheimnis meiner Mutter
könnte. Und sie glaubte ihm. Vertraute ihm. Fühlte sich bei ihm sicher. Was sie entweder zur dümmsten oder zur klügsten Frau der Stadt machte.
Das Geräusch eines herannahenden Autos riss sie aus ihren Überlegungen. Sie drehte sich um und sah Olivia Bellamy aus einem silbernen Lexus-SUV aussteigen. Schnellen Schrittes eilte sie über die Straße auf Jenny zu. Mit ihren blonden Haaren, den Designerstiefeln und einer bestickten skandinavischen Jacke sah sie aus wie eine der Frauen, mit denen Rourke sich normalerweise traf. Es gab nur einen entscheidenden Unterschied: Olivia Bellamy hatte einen klugen Kopf.
„Jenny“, sagte sie und zog sie in eine herzliche Umarmung. Dann trat sie einen Schritt zurück. „Ich habe gerade erst davon erfahren. Gott sei Dank, dass dir nichts passiert ist.“ Sie warf einen Blick auf die verkohlten Überreste des Hauses. „Es tut mir so leid“, sagte sie.
„Danke.“ Jenny fühlte sich ein wenig unbehaglich. Sie und Olivia waren Schwestern – Halbschwestern – und kannten sich noch nicht sehr gut. Durch einen Zufall waren sie einander letzten Sommer begegnet, als Olivia aus der Stadt hierhergezogen war, um das Sommercamp der Bellamys am Rande des Willow Lake zu renovieren.
Anfangs war es für beide beinahe erschreckend gewesen herauszufinden, dass sie beide Töchter von Philip Bellamy waren. Überraschend und irgendwie bittersüß. Jenny war das Ergebnis einer jugendlichen Affäre. Olivia war das Kind der Frau, die Philip geheiratet hatte und von der er inzwischen geschieden war. Jenny und Olivia versuchten immer noch, sich an die Vorstellung zu gewöhnen, Schwestern zu sein. Es trennten sie zwar noch Welten von den glücklichen Zwillingen aus dem Film Ein Zwilling kommt selten allein , aber sie waren auf einem guten Weg.
„Du hättest mich gleich anrufen sollen“, sagte Olivia. Dann nickte sie Rourke zu. „Hey, Rourke.“ Sie wandte sich wieder an Jenny. „Wieso hast du dich nicht gemeldet?“
„Ich, äh, ich war in der Bäckerei, als das Feuer ausbrach, und dann …“ Jenny wusste nicht, warum sie das Gefühl hatte, sich entschuldigen zu müssen. Sie war sich noch so unsicher, wie sie sich ihrer neuen Schwester gegenüber verhalten sollte. „Es war alles so ein Chaos, wie du dir bestimmt vorstellen kannst.“
„Entschuldigt mich bitte“, warf Rourke ein, als der Chef der Feuerwehr ihm bedeutete, zu ihm zu kommen.
„Ich mag es mir kaum vorstellen.“ Olivia berührte sie am Arm. „Oh, Jenny. Ich möchte dir so gerne helfen. Was kann ich tun?“ Sie schien beinahe verzweifelt zu sein und es sehr ernst zu meinen.
Jenny schaffte es irgendwie, ein Lächeln aufzusetzen. Mit einem Mal war sie dankbarer, als sie in Worte fassen konnte, dass sie nach dem Verlust ihrer Granny wenigstens noch eine Schwester hatte. Ohne Olivia wäre Jenny jetzt ganz allein auf der Welt. Niemand aus ihrer Familie lebte noch. Gleichzeitig verspürte sie einen kleinen Anflug von Melancholie bei dem Gedanken an all die Jahre, die sie verpasst hatten. Sie war mit Bellamys um sich herum aufgewachsen, ohne zu ahnen, welche Verbindung sie zu ihnen hatte. Sie und Olivia waren so unterschiedlich. Olivias Leben war vom Luxus und den Privilegien der Bellamy-Familie gekennzeichnet. Die angebetete – und, Olivia zufolge, verhätschelte – einzige Tochter, die nur die besten Schulen besucht und ihren Abschluss auf der Columbia mit Auszeichnung bestanden hatte. Die mit vierundzwanzig Jahren ihre erste eigene Firma eröffnet hatte. Sie sah umwerfend aus, war erfolgreich, hatte sich in den perfekten Mann verliebt – den örtlichen Bauunternehmer Connor Davis. Es wäre so einfach, sie zu beneiden und nicht zu mögen.
Doch Jenny mochte Olivia wirklich gerne. Aus tiefstem Herzen. Ihre Halbschwester war freundlich und lustig und wollte wirklich eine Beziehung zu ihr aufbauen. Jenny hatte mal irgendwo gelesen, dass der wahre Belastungstest für eine Beziehung war, ob und wie sie in einer Krisensituation hielt.
Ich schätze, das werde ich jetzt herausfinden, dachte sie.
Sie holte tief Luft und sagte dann: „Im Moment bin ich noch etwas desorientiert. Ich hoffe, du verzeihst.“
„Verzeihen? Meine Güte, Jenny. Du musst am Boden zerstört sein.“
„Nun ja, wenn du es so ausdrückst …“
„Also, ich sollte mir mal selber zuhören. Ich bin fürchterlich.“
„Ist schon gut. Ich glaube, in solchen Situationen gibt es keine Etikette.“ Ein betretenes Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus.
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