Das Geheimnis meiner Mutter
zwar ins Camp der Bellamys, das inmitten der Wildnis der Catskills lag. Als Rourkes Mutter noch jung gewesen war, war sie auch mal ins Camp Kioga gefahren, und sie fand, dass Rourke diese Erfahrung ebenfalls machen sollte.
Rourke musste so tun, als wäre er am Boden zerstört, weil er den ganzen Sommer über von seinen Eltern getrennt wäre. Er musste vorgeben, genauso um sein Wohlergehen besorgt zu sein, wie es sein Vater war. Er musste sogar seine Freude darüber verheimlichen, dass Joey mit ihm kam, damit die Jungen aufeinander achtgeben konnten. Rourke wusste, dass dieser Campaufenthalt eine Stange Geld kostete. Geld, das seine Familie problemlos aufbringen konnte, aber die von Joey nicht. Offiziell würde Joey das Camp dank eines Stipendiums besuchen, inoffiziell war das allerdings nur eine Umschreibung dafür, dass Rourkes Vater heimlich auch seine Rechnung bezahlte.
Allerdings nicht aus reiner Herzensgüte. Rourkes Vater war komplett paranoid. Zumindest in Rourkes Augen. Der Kerl war total verrückt. Er schickte Joey mit ins Camp, damit Rourke nicht alleine unter Fremden wäre. Die Möglichkeit eines Attentats auf seine Familie sorgte dafür, dass der Senator sich wichtig fühlte. Und das war alles, worum es Drayton McKnight wirklich ging – sich wichtig zu fühlen.
Und perfekt zu sein. Nein, dachte Rourke, perfekt zu wirken . Den Anschein zu erwecken, dass man die perfekte kleine Familie und das perfekte Leben hatte. „Mach mir Ehre“ war der Satz, den Rourke am häufigsten von seinem Vater hörte. Es war eine Art Code, wie Rourke inzwischen herausgefunden hatte. Es bedeutete, dass er in jeder Sportart, die er ausübte, gewinnen musste. Nur Einsen in der Schule hatte. Lernte, sein Aussehen und sein selbstsicheres Lächeln einzusetzen, um Leute für sich einzunehmen, damit sie bei jeder Wahl wieder für seinen Vater stimmten.
All das war leicht. Er war groß und stark und hatte keine Probleme, jede Sportart zu meistern, die er in Angriff nahm. Und gute Noten? Dafür musste man nur gut zuhören, was der Lehrer sagte, und herausfinden, was er als Antwort hören wollte. Rourke war nicht umsonst der Sohn eines Politikers. Er wusste, wie so etwas ging.
Er konnte es kaum erwarten, ins Camp zu kommen, wo niemanden seine Noten interessierten. Er biss sich auf die Innenseite seiner Unterlippe, um das Lächeln zu unterdrücken, das bereits drohend um seine Mundwinkel zuckte.
„Deine Haare sind zu lang“, sagte sein Vater mit einem Mal. „Julia, warum war er nicht beim Friseur, bevor wir ihn den Sommer über wegschicken?“
Rourke bewegte sich nicht. Das war ein heikler Augenblick. Aus einer Laune heraus konnte sein Vater entscheiden, dass sie sofort umkehren und zu dem alten Friseurladen fahren sollten, wo elektrische Schermaschinen für einen riesigen Kahlschlag um die Ohren kleiner Jungen herum zum Einsatz kamen.
Rourke guckte weiter aus dem Fenster. Regentropfen rasten über das Glas wie kleine Quecksilberkugeln. Er fand zwei, die nahezu gleichauf waren, und suchte sich einen davon als Gewinner des kleinen Rennens aus. Er spannte seinen Körper unmerklich an, als der Tropfen erst die Oberhand gewann und dann doch weit zurückfiel. Schließlich vereinten sich die Tropfen mit allen anderen, und er verlor sie aus den Augen.
„Er ist beim Friseur gewesen“, sagte Rourkes Mutter. Sie benutzte ihre beruhigende Stimme, die sie immer dann einsetzte, wenn sie Rourkes Dad nicht auf die Palme bringen wollte. „Das ist der Sommerschnitt, den er immer bekommt.“
„Er sieht aus wie ein Mädchen“, bemerkte der Senator. Er beugte sich vor und schaute Rourke ins Gesicht. „Willst du den ganzen Sommer wie ein Mädchen aussehen?“
„Nein, Sir.“ Rourke starrte weiter auf die regenverschmierte Scheibe. Er hielt den Atem an und betete, dass sein Dad dem Fahrer nicht befehlen würde umzudrehen.
„Es ist alles gut, wirklich“, versicherte Rourkes Mutter.
Wow, wie mutig, Mutter, dachte Rourke zynisch. Was für eine Leistung, sich dem Arschloch entgegenzustellen.
„Mildred Van Deusen hat mir erzählt, dass alle ihre drei Jungen mit dem gleichen Zug fahren werden“, fuhr Rourkes Mutter fort. „Rourke, du musst schauen, ob du sie findest. Vielleicht kannst du ja bei ihnen sitzen.“
Bingo, dachte Rourke und beobachtete, wie das Interesse seines Vaters sich verlagerte. Das musste Rourke seiner Mutter lassen – sie war vielleicht nicht gut darin, sich gegen seinen Vater durchzusetzen, aber sie hatte verdammt
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