Das Geheimnis meiner Mutter
ein wenig zusammen, sodass seine Eltern zu einer einzigen Figur verschmolzen und nicht mehr zwei separate Individuen waren, sondern eine einzige Person. SenatorundFrau McKnight.
Um ihn herum hörte er Kinder und ihre Eltern sich voneinander verabschieden. Einige der Mädchen und Mütter weinten, versicherten einander, dass sie sich schrecklich vermissen würden, und versprachen, sich jeden Tag zu schreiben. Mr Santini, ein Bär von einem Mann, riss Joey in seine Arme, gab ihm einen Kuss auf den Scheitel und sagte: „Ich werde dich vermissen wie Eis mit Schokoladensoße, Sonnyboy.“ Dabei versuchte er gar nicht erst, seine Tränen zurückzuhalten.
Rourke fragte sich, wie es wohl war, eine Familie zu haben, die einen tatsächlich vermisste, wenn man fortging.
Camp Kioga war so magisch, wie Rourkes Mutter gesagt hatte. Er und Joey teilten sich mit zehn anderen Jungs eine der hölzernen Schlafbaracken. Ihre hieß Ticonderoga Cabin. Jeder Tag war mit Aktivitäten angefüllt – Sport und Kunst, Wanderungen, Bergsteigen, Segeln und Kanufahren auf dem Willow Lake, Geschichten am abendlichen Lagerfeuer. An manchen Abenden mussten sie singen und tanzen, worauf Rourke gut und gerne hätte verzichten können, aber da jeder teilnehmen musste, kam er nicht darum herum.
Etwas, das Rourke wirklich gut konnte, war, sich mit etwas abzufinden, worauf er eigentlich keine Lust hatte. Und er hatte weiß Gott schon Schlimmeres ertragen, als ein kicherndes Mädchen mit schweißnassen Händen über die Tanzfläche zu führen und dabei im Takt der Musik schnellschnell, langsam, schnellschnell, langsam vor sich hinzumurmeln.
Im Camp traf er mehrere Bellamys. Zum einen Mr und Mrs Charles Bellamy, die Besitzer und Direktoren des Camps, die sehr nett waren. „Das Versprechen deines Vaters, die Wildnis zu schützen, bedeutet uns sehr viel. Dank dieser Gesetzgebung müssen wir uns keine Sorgen machen, dass uns die Industrie irgendwann auf den Pelz rückt“, hatte Mrs Bellamy am ersten Tag zu ihm gesagt. „Du musst sehr stolz auf ihn sein.“
„Ja, Ma’am.“ Rourke hatte nicht gewusst, was er sonst hätte sagen sollen. Ja, er ist ein guter Diener der Öffentlichkeit, aber im Privatleben ein totales Arschloch – das wäre ungefähr so gut angekommen wie ein Furz in der Kirche.
„Wir sind sehr froh, dich bei uns zu haben“, fuhr Mrs Bellamy fort. „Ich erinnere mich noch an deine Mutter. Julia … Delaney war ihr Mädchenname, oder?“
„Ja, Ma’am.“
„Sie war hier sehr beliebt und immer so fröhlich. Immer war sie zu Scherzen aufgelegt, und bei den Talentwettbewerben hat sie einen Auftritt als Stand-up-Comedian hingelegt, über den wir uns schiefgelacht haben.“
Rourke hatte ihr nicht geglaubt, aber an einem regnerischen Nachmittag, als die Freiluftaktivitäten gestrichen worden waren und Joey allein etwas unternahm, zeigte sie ihm ein paar der sorgfältig gehüteten Fotoalben in der Bibliothek des Camps. Die Sammlung befand sich im Haupthaus, einem gigantischen Holzgebäude aus den 1930er Jahren. Es war das Herz von Camp Kioga und beherbergte den Speisesaal, die Bibliothek, das Krankenzimmer, die Küche und die Büros.
Und tatsächlich fand er mehrere Schnappschüsse seiner Mutter aus den 70ern, auf denen sie den Zuschauern richtig einheizte. Sie hatte ein Lächeln, das Rourke noch nie an ihr gesehen hatte. Er hätte sie beinahe nicht erkannt, so vollkommen glücklich sah sie aus.
Er dankte Mrs Bellamy, dass sie ihm einen kleinen Einblick in die Geschichte des Camps gewährt hatte. Dann lungerte er in der Bibliothek herum, bis der Regen nachließ, und stöberte in den Büchern. Die Auswahl reichte von den „Drei Fragezeichen“ über Bücher zur Vogelkunde bis zu Klassikern von Thoreau und Washington Irving und natürlich der unvermeidlichen Sammlung an Gespenstergeschichten. Lange nachdem die Sonne schon längst wieder hervorgekommen war, schaute er sich die Bücher an und versuchte, sich ein anderes Leben für sich vorzustellen. Als sie klein waren, hatten Joey und er immer davon gesprochen, gemeinsam in die Armee einzutreten und die Welt zu bereisen, aber je älter sie wurden, desto mehr verblasste diese Fantasie. Nun als Siebtklässler spürte Rourke bereits die erdrückende Erwartung seines Vaters, und Joey lernte die raue Wirklichkeit der Arbeiterklasse kennen.
Rourke fragte sich, was Joey wohl auf seinem einsamen Ausflug machte. Von jedem Jungen wurde erwartet, dass er mindestens einmal während des Sommers
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