Das Geheimnis meiner Mutter
schlichtes weißes Gebäude inmitten eines flachen weißen Grundstücks. Daisy hoffte, dass unter der dicken Schneedecke Blumenbeete oder Stauden wuchsen, denn wenn nicht, wäre dieses Haus prädestiniert für eine dieser Renovierungssendungen im Fernsehen. Aber sie wusste auch, dass es egal war, wie das Haus von jemandem aussah. Ihre Eltern hatten nicht ein, sondern gleich zwei wunderschöne Häuser gehabt: ein Stadthaus in Manhattan und ein Wochenendhaus auf Long Island. Trotzdem waren sie damit nicht glücklich geworden.
„Meine Mom ist heute krank“, sagte Sonnet, als sie die Haustür aufschloss. „Sie hat sich auf der Tagung eine Erkältung eingefangen.“
Daisy hörte irgendwo ein Radio spielen. Nina Romano schien ein Fan von Air America zu sein. Sonnet ging voran ins Wohnzimmer.
Nina saß mit einer Wolldecke zugedeckt auf dem Sofa und hatte ihren Laptop auf dem Schoß. Auf dem kleinen Beistelltischchen standen mehrere Tassen und Erkältungsmittel, eine Box mit Kleenex, ein normales Telefon und ein Blackberry. Sie schaute auf, und ein Lächeln erhellte ihr Gesicht. „Hey, ihr. Wie war die Schule?“
Daisy musste sich zusammenreißen, um sich ihre Überraschung nicht anmerken zu lassen. Sie hatte erwartet, dass die Bürgermeisterin der Stadt eine forsche, effiziente, an eine Bibliothekarin erinnernde Person mit dicken Knöcheln und praktischen Schuhen wäre. Stattdessen sah Nina viel zu jung aus, um eine Tochter in Sonnets Alter zu haben. Und sie war weiß, auch wenn das keine wirkliche Überraschung war, da Daisy in der Schule bereits zwei von Sonnets Onkeln kennengelernt hatte. Ein anderes Detail überraschte Daisy hingegen überhaupt nicht: Nina war wunderschön, was Sonnets Aussehen nach allerdings auch zu erwarten war. Trotzdem wirkten Mutter und Tochter, als stammten sie von zwei verschiedenen Kontinenten.
Sonnet stellte alle einander vor, und Nina strahlte Daisy an. „Komm lieber nicht näher“, sagte sie. „Ich habe mir die Mutter aller Erkältungen eingefangen und will euch nicht anstecken. Ich hatte gehofft, dich kennenzulernen, Daisy. Mein Bruder Tony sagt, dass du in seiner Klasse bist.“
„Das stimmt.“
„Und du arbeitest bereits in der Bäckerei, wie ich hörte. Das ist großartig.“
„Neuigkeiten verbreiten sich hier wohl schnell“, merkte Daisy an.
„Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schnell. Wusstest du, dass Jenny Majesky meine beste Freundin ist? Wir sind zusammen aufgewachsen.“ Sie wandte sich an Zach. „Wie geht es dir?“, fragte sie. „Ich hab dich lange nicht gesehen.“
„Ich habe meine Stundenanzahl in der Bäckerei erhöht.“ Zach wirkte ein wenig unbehaglich. Er stand am Türrahmen, als wolle er jeden Moment die Flucht antreten. Daisy wusste, dass es Spannungen zwischen Zachs Vater und Sonnets Mutter gab, die zweifellos damit zusammenhingen, dass sein Dad, der derzeitige Vermögensverwalter der Stadt, hinter Ninas Job her war. Zach erzählte nicht viel von seinem Vater, aber Daisy hatte den Eindruck, dass Matthew Alger sehr streng und sehr auf Geld fixiert war. Vermutlich hieß er es nicht gut, dass sein Sohn hierherkam und sich mit dem Feind verbündete.
Die drei gingen in die Küche, um sich etwas zu essen zu holen, und machten sich dann an die Arbeit.
„Deine Mom sieht aus wie eine Collegestudentin“, sagte Daisy zu Sonnet.
„Sie war erst fünfzehn, als sie mich bekommen hat.“
Daisy wusste nicht, was sie sagen sollte. „Tut mir leid“ schien nicht angebracht. „Was ist passiert?“, platzte sie heraus, bevor sie entscheiden konnte, ob sie diese Frage wirklich stellen wollte. „Ich meine, abgesehen vom Offensichtlichen.“
„Sie hat einen Typen aus West Point kennengelernt. Er hatte keine Ahnung, dass sie noch minderjährig war. Meine Mom sah viel älter aus als fünfzehn. Und jetzt sieht sie viel jünger aus als einunddreißig. Ich bin echt stolz auf sie.“
„Das kann ich mir vorstellen. Sie muss eine tolle Frau sein, wenn sie von der Teenagermutter zur Bürgermeisterin geworden ist. Du bist aber auch toll“, fügte Daisy hinzu. „Du wirst erst sechzehn sein, wenn du deinen Abschluss machst. Warum eigentlich die Eile?“
Sonnet zuckte mit den Schultern. „Das war kein großer Aufwand. Ich habe meine Englischstunden verdoppelt, das hat mir genügend Punkte gegeben, um mich für den Abschluss zu qualifizieren. Für mich hat es sich nicht sonderlich schnell angefühlt. Ich schätze, ich hab es ziemlich eilig, hier wegzukommen
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