Das Geheimnis meiner Mutter
Schutzschild, mit dem Jenny ihre Distanz zu wahren hoffte.
Anders als Jenny hielt Sonnet sich mit der Äußerung ihrer Gefühle überhaupt nicht zurück. Sie warf einen Blick auf Joey Santini und schrie vor Freude laut auf. Als sie ihn das erste Mal gesehen hatte, hatte sie beschlossen, dass er die Liebe ihres Lebens war. Es war zwar traurig, dass die Kleine ohne Vater aufwuchs, aber es hatte auch seine Vorteile. Es gab so viele Menschen in ihrem Leben, die sie vergötterten. Der Schlüssel lag nicht in der DNA, die sie trug, sondern in der Liebe, die sie umgab.
Wie die meisten jungen Männer betrachteten Rourke und Joey kleine Kinder mit der gleichen vorsichtigen Distanz wie eine Mokassinschlange. Und wie die meisten Kinder im Krabbelalter interessierte es Sonnet nicht im Geringsten. Sie wand sich so lange in Jennys Armen, bis diese das unruhige Bündel einfach Joey in die Hände drückte. Er schaute in das kleine nussbraune Gesicht. „Ein Pieps von dir, und ich geb dich zurück“, sagte er.
„Pieps“, sagte Sonnet und schaute ihn mit großen Augen an.
Auf dem Weg hinunter zum See hielt Rourke Distanz, als trüge Joey eine hoch entzündliche Flüssigkeit bei sich. Es dämmerte bereits, und die Menschen hatten sich um die Lagerfeuer am Seeufer versammelt. Sie rösteten Marshmallows und entzündeten Wunderkerzen, die die Kinder unermüdlich in Achten und Kreisen durch die Luft wirbelten. Als es endlich ganz dunkel war, schoss die erste Rakete von der Insel in der Mitte des Sees in den dunklen Nachthimmel. Bunte Sternenschauer wurden vom spiegelglatten Wasser reflektiert und von den Ohs und Ahs der Zuschauer begleitet. Sonnet war von dem Schauspiel ganz begeistert. Sie klatschte verzückt in die Hände und gluckste bei jeder neuen Explosion. Aber wie den meisten Kleinkindern wurde ihr bald langweilig, und sie wollte im See baden gehen.
„Das ist keine gute Idee“, sagte Nina. „Es ist schon dunkel, und wir haben unsere Badesachen nicht dabei.“
„Mom“, sagte Sonnet, und ihrer Minnie-Mouse-Stimme war anzuhören, dass sie kurz vor einem Trotzanfall stand.
„Komm, wir gehen ein bisschen spazieren“, schlug Nina vor und sprang auf.
Die vier Erwachsenen und das kleine Mädchen stahlen sich davon. Rourke leuchtete mit seiner Taschenlampe den Weg am See entlang. Sie kamen am Bootshaus vorbei und am Mitarbeiterpavillon, der inoffiziell auch als Partyhütte bekannt war. Die Camparbeiter und viele der Betreuer hatten sich bereits hier versammelt, nun, da die kleinen Campbewohner bald in ihre Betten schlüpfen würden. „Wo willst du hin, Rourke?“, rief eine flirtende weibliche Stimme. Er beschleunigte seinen Schritt, das einzige Anzeichen dafür, dass er das Mädchen gehört hatte.
„Was ist denn das?“, fragte Nina und zeigte auf ein großes, etwas gedrungenes Gebäude, das weit hinter den Mitarbeiterhütten ein wenig abseits stand.
„Da wohnt der Hausmeister im Winter“, erklärte Joey. „Im Moment steht es leer. Kommt, wir gucken es uns mal an.“
„Es ist bestimmt abgeschlossen“, sagte Rourke.
„Definitiv“, stimmte Joey zu. „Wie gut, dass ich den Schlüssel habe.“
Es war eine wunderschöne alte Holzhütte. Die Luft war ein wenig abgestanden, weil die Hütte so lange nicht benutzt worden war. Die meisten Möbel waren aus geschälten Baumstämmen getischlert, und überall fanden sich Erinnerungsstücke an das Campleben. Ursprünglich hatte es sich hierbei um das Wohnhaus der Campbesitzer gehandelt. Nun wurde es von den Bellamys als Gästehaus oder zur Vermietung in der Nebensaison genutzt. Joey öffnete den Kühlschrank, der jedoch leer war. Sonnet rannte herum und erkundete jeden Winkel. In einer aufklappbaren Bank fand sie Spielzeug und Kuscheltiere und bediente sich. Dann blieb sie vor dem ausgestopften Elchkopf stehen, der über dem aus Flusssteinen erbauten Kamin an der Wand hing, und wurde ganz ruhig.
„Keine Angst, der tut dir nichts“, sagte Joey und hob sie hoch. Doch ganz schnell ließ er sie wieder runter und sagte: „Mein Gott, was ist das für ein Geruch?“
„Ich habe gepupt“, sagte Sonnet.
„Gott“, wiederholte er. „Davon tränen mir ja die Augen. Ich dachte, du wärst schon stubenrein, oder wie auch immer das bei euch heißt.“
„Trocken nennt man das“, sagte Nina. „Und die schlechte Nachricht ist, die Windeltasche befindet sich noch im Auto.“
Sonnet fing an zu schluchzen, als wenn ihr gerade jemand das Herz gebrochen hätte. Man entschied,
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