Das Geheimnis meiner Mutter
dass Joey Nina zum Auto zurückbegleiten würde, während Rourke und Jenny das Spielzeug wegräumten, das Sonnet sich genommen hatte. Jenny machte ein Fenster auf, um etwas frische Luft hereinzulassen. Beim Anblick von Rourkes entsetzter Miene versuchte sie, nicht zu lachen, aber das misslang ihr gründlich.
„Du findest das witzig?“, fragte er.
„Nein. Ich finde deine Reaktion witzig. Es war kein Giftgasangriff, Rourke.“
„Sie sollten Kinder wie sie in den Elternkursen an der Highschool einsetzen. Das würde die Geburtenrate schlagartig auf null sinken lassen.“
Jenny sammelte die Teile eines Cribbage-Spiels ein, die Sonnet auf dem Fußboden verteilt hatte. „So schlimm ist es nun auch wieder nicht.“
„Für dich vielleicht nicht.“
„Ehrlich gesagt steht Windeln wechseln auch ganz unten auf meiner Liste der bevorzugten Tätigkeiten.“ Sie dachte daran, wie toll Nina von Anfang an gewesen war. Eine Windel zu wechseln war ja nur ein kleiner Teil dieser unglaublichen Verantwortung, die ein Kind bedeutete. Doch obwohl sie selber noch so jung war, behandelte sie Sonnet mit unendlicher Geduld und Liebe.
„Mein Großvater ist immer im Winter hierhergekommen“, sagte Jenny und blätterte durch ein Fotoalbum, auf dessen schwarze Seiten alte Bilder geklebt waren. Bei einem Schnappschuss von ihm hielt sie inne. Er stand auf dem Dock und lächelte. „Er und Mr Bellamy sind immer zum Eisangeln gegangen.“ Vorsichtig berührte sie das Foto mit einer Fingerspitze, und der Schmerz überfiel sie mit solch einer Macht, dass er körperlich zu spüren war.
„Es tut mir leid.“ Wie so viele Menschen schien auch Rourke nicht zu wissen, was er sagen sollte.
„Ist schon okay.“ Ihre Stimme klang dünn und unsicher. Langsam klappte sie das Album zu. „Es ist nur … ich vermisse ihn so sehr.“
Als Nächstes – sie wusste bis heute nicht, wie es passiert war – fand sie sich in Rourkes Armen wieder und fühlte sich so unendlich geborgen, dass sie die Umarmung erwiderte. Und dann küssten sie sich.
Endlich, wie durch ein Wunder, küssten sie sich. Es war der Kuss, den sie sich schon tausend Mal vorgestellt hatte – tief und intensiv, die Art Kuss, die die Welt stillstehen ließ. Die Art, von der sie nie gedacht hätte, sie einmal zu erleben, obwohl sich die Gefühle Sommer für Sommer immer mehr zwischen ihnen angestaut hatten. In ihr wurde ein Feuer entfacht, und zum ersten Mal im Leben fühlte sie sich emporgewirbelt und davongetragen. Oh, sie wollte es, sie wollte es schon immer, und es war besser, als alle ihre fiebrigen Träume gewesen waren. Es war ein perfekter Moment, und sie wollte nicht, dass er endete. Als sich ihre Lippen schließlich voneinander lösten und sie beide versuchten, Luft zu holen, machte sie einen wagemutigen Schritt. Sie schob ihre Hände unter sein Sweatshirt. Er hielt den Atem an, als wenn sie ihm wehgetan hätte. Das Mondlicht schien durch das Fenster und fiel auf die blasse Narbe auf seiner Wange. Und Jenny stellte sich der kalten Wahrheit: Von diesem Moment an wäre sie für immer für alle anderen Küsse ruiniert.
„Rourke …“
„Es tut mir leid.“ Er trat einen Schritt zurück. „Ich hätte nicht … das wird nie wieder passieren.“
Aber ich will, dass es passiert, schrie sie innerlich. Sie wollte ihn wieder küssen, und sie wollte, was auch immer als Nächstes kam.
„Wir sollten gehen“, sagte er. „Sie warten sicher schon auf uns.“ Ohne sich umzusehen, ob sie ihm folgte, ging er zur Tür und hielt sie auf. Sie schaute ihn aus blitzenden Augen an, hin und her gerissen zwischen ihren Gefühlen. Erst hatte er sie heißgemacht, und jetzt ließ er sie abblitzen. Er funkelte zurück und rührte sich keinen Millimeter von der Tür. Sie schaute sich noch ein letztes Mal um, dann ging sie nach draußen, die Stufen hinunter und einfach weiter, während er die Tür zuzog und abschloss.
Er holte sie ein und ging schnell, als hätte er es eilig, wieder von ihr wegzukommen. Das Feuerwerk war inzwischen vorbei, und der Mond stand hoch am Himmel, sodass sie den Weg um den See herum gut sehen konnten.
„Du bist böse auf mich“, sagte sie. Es hatte keinen Zweck, so zu tun, als wäre nichts passiert.
„Nein, ich bin nicht böse auf dich.“
„Bist du doch. Das merke ich. Du strafst mich mit Schweigen, und deine Augen sind ganz verkniffen.“
Er blieb stehen und seufzte schwer. „Meine Augen sind nicht verkniffen, und ich bin nicht
Weitere Kostenlose Bücher