Das Geheimnis unserer Herzen: Roman (German Edition)
Mutter davon Wind bekommen, würde sie diese beiden Dienstboten auf der Stelle entlassen. Aber dann lehnte sich die Frau zurück, sodass Vanessa das Gesicht des Mannes sehen konnte – und feststellte, dass er kein anderer war als Jeremy, ihr Verlobter!
Vanessa wusste, dass sie ihn mit offen stehendem Mund anstarrte, obwohl die Etikette in einem solchen Fall verlangte, dass sie sich abwandte und ihn seiner Entgleisung überließ. Jedenfalls war das genau der Rat, den ihre Mutter ihr gegeben hätte. Wende den Kopf ab und schau weg. Tu so, als bemerktest du es nicht.
Natürlich wusste sie, dass Männer zu Seitensprüngen neigten, aber was ihr am meisten zu denken gab, war das lange, blonde Haar, das der Frau über die nackten Schultern fiel. Denn dieses Haar war ihr nur zu gut bekannt, weil es ihrer jüngeren Schwester Violet gehörte.
Wut kochte in Vanessa hoch. Sie wusste nicht, wie lange sie dort stand, aber irgendwann beendeten die beiden, was sie taten. Violet löste sich von Jeremy und legte sich neben ihn. Dicht aneinandergeschmiegt, steckten sie die Köpfe zusammen und flüsterten sich offensichtlich liebevolle Worte zu. Und erst in diesem Moment betrat Vanessa die Bibliothek. Dabei räusperte sie sich, und als Jeremy sie sah, griff er nach dem nächsten Stück Stoff, um seine Nacktheit zu bedecken. Dass dieser Stoff zufällig Violets Unterhemd war, ließ ihn äußerst lächerlich erscheinen. Aber Vanessa konnte der Situation nichts Komisches abgewinnen.
»Vanessa!«, sagte er. »Ich, ähm, wir …« Immerhin besaß er den Anstand, unter ihrem Blick zu erröten.
»Ich habe gesehen, was ihr getan habt«, sagte Vanessa, bevor sie tief durchatmete und sorgfältig ihre nächsten Worte wählte. »Und du sagtest, du wärst nicht interessiert an dieser Art Beziehung. Du sagtest, du glaubtest nicht an Leidenschaft.«
Er sah Violet an und wandte sich dann wieder Vanessa zu. »Das war vorher«, murmelte er und senkte seinen Blick.
»Vor dem hier?«, fragte sie und deutete auf den Boden, auf dem sie saßen. »Vor heute Nacht?«
»Nun ja … bevor ich Violet begegnete.« Er errötete noch heftiger und drückte das Hemd an seine Brust.
Waren sie schon die ganzen sechs Wochen zusammen gewesen, seit Jeremy in London war? Vanessa hätte sich gern gesetzt, um ein paarmal tief durchzuatmen und so lange über die Lage nachzudenken, bis alles vielleicht einen Sinn ergab.
»Wir haben uns verliebt, Vanessa.« Jeremy schüttelte den Kopf, und sein Gesichtsausdruck kam Selbstmitleid jetzt bereits gefährlich nahe. »Es tut mir leid. Es kam ganz unerwartet.«
Vanessa veränderte ihre Haltung und verschränkte ihre Arme vor der Brust. »Verliebt. Noch etwas, woran du angeblich nicht glaubtest. Und wann wolltet ihr beide mir diese kleine Neuigkeit erzählen?« Sie trat einen Schritt vor. »An unserem Hochzeitstag?« Die Empörung, die in ihr gebrodelt hatte, schwoll zu ungebremster Wut an. »Nach der Hochzeit? Oder hattet ihr vor, die Sache einfach zu verschweigen und darauf zu hoffen, dass ich nichts bemerken würde?«, fragte sie, wohl wissend, dass ihre Stimme lauter wurde.
Die ganze Zeit saß Violet nur da und sagte nichts, ja, sie besaß nicht einmal den Anstand zu erröten. Sie vermied es nur, Vanessa anzusehen.
»Ich weiß es nicht«, war alles, was Jeremy zu erwidern wusste.
Vanessa wartete nicht auf weitere Erklärungen, sondern drehte sich um und ging. Sie wusste nicht, wer von beiden sie wütender gemacht hatte. Sie mochte Jeremy und hatte geglaubt, ihre Beziehung gründete auf gegenseitigem Interesse und Respekt. Was Violet anging, so hatten sie das gleiche Blut in ihren Adern, eine gemeinsame Kindheit und gemeinsame Erinnerungen. Zugegebenermaßen waren diese Dinge die einzigen Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Schwestern, aber sie war immerhin eine Familienangehörige.
In ihrem Schlafzimmer zog Vanessa die Tür hinter sich zu, öffnete ohne Zögern ihre Truhe, die schon einen Teil ihrer Aussteuer enthielt, und begann achtlos Kleidungsstücke hineinzuwerfen. Violet war die jüngste der drei Pembrooke-Schwestern und zweifellos die attraktivste. Und auch die lebensfroheste. Sie war temperamentvoll und verwöhnt, und die Menschen, vor allem die Männer, liebten sie.
Vanessa liebte sie auch. Trotz ihrer Unterschiedlichkeit waren sie Schwestern, und was Violet ihr angetan hatte, war der ultimative Verrat.
Drei Stunden später, als die Kutsche sich endlich anschickte, die London Street hinunterzurumpeln, wagte
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