Das Geheimnis vom Kuhhirtenturm
schon mal gehört? Es konnte noch nicht so lange her sein, das wußte er, aber wo? Verdammt. Er versuchte, sich zu konzentrieren. Aber im Marihuana-Rausch ist ja bekanntlich alles anders. Immer wieder trifteten die Gedanken in andere Richtungen, kaum einer war zu fassen.
Hatte jemand zu ihm gesagt, er sei fett wie ein Otter? War es Maria? War er überhaupt fett? Herr Schweitzer strich ganz zärtlich über seinen Bauch. Nein, fett würde er es nicht nennen. Vielleicht ein bißchen übergewichtig, na wenn schon. Er nahm die Brezel aus der Tüte und biß ab. Hm, lecker. Wo war ich stehengeblieben? He, was soll das, gerade eben habe ich doch noch den Mord an Jens Auer aufgeklärt. Spinne ich? Was soll ich aufgeklärt haben? Simon, Simon, was ist denn los mit dir? Also noch einmal von vorne. Doch wo war vorne?
Die wackelnden Bankentürme – nein. Der lila-weiß gestreifte Dom – nein. Die gerade kenternde
Wappen von Frankfurt
– definitiv auch nein. Der Ouzo – ja, oh jaaah.
Doch nun war Herr Schweitzer listiger. Er holte seinen Kuli hervor und notierte sich seine Gedanken auf einem Bierdeckel. Er ahnte, hier passierte Entscheidendes und er konnte mal wieder Geschichte schreiben. Simon Schweitzer, ein Visionär von Gottes Gnaden.
Hinter die letzte Notiz setzte er drei Ausrufezeichen. Sie lautete: Joschka Fischer, fett wie ein Otter!!!
Er war fertig. Und irgendwo in diesem Gekritzel steckte ein neuer Ansatzpunkt, so viel war klar. Allerdings setzte ihm sein jetziger Zustand auch Grenzen. Was aber nicht tragisch war, anhand der Notizen ließ es sich auch später noch vorzüglichst analysieren und recherchieren.
Als hätte er gerade Osama bin Laden im Alleingang und in schweren Eisenketten zum Haftrichter geschleppt, verschränkte Herr Schweitzer rundum zufrieden die Hände hinter dem Kopf. Er wußte zwar noch nicht warum, aber er war halt ein Prachtkerl. Und fügte noch hinzu: schon immer gewesen.
Und nun, da die Arbeit gemacht war, konnte er sich auch wieder der außergewöhnlichen Farbenpracht Frankfurts hingeben. Er genoß es. Eine andere frühere Assoziation unterstützte ihn dabei. Herr Schweitzer sah sich als leibhaftigen indischen Yogi, dem die Erleuchtungen wie Sternschnuppen nur so vor die Füße fielen.
Es dauerte dann aber noch eine Stunde, bis Herr Schweitzer insoweit wieder hergestellt war, daß er zumindest zahlen und sich auf den Heimweg machen konnte. Der zweite Gratisjoint blieb in der Zigarettenschachtel. Den wollte er sich aufheben, bis es was zu feiern gab.
Der Mittagsschlaf gelang ihm perfekt.
– Rückblende –
Esterházy war deprimiert, wie so oft in letzter Zeit. Er hatte nicht den blassesten Schimmer, wie und wann er nach Hause gekommen war. Sein Vorhaben, Jens Auer selbst über Leben und Tod entscheiden zu lassen, hatte er gründlich vermasselt. Der Taxifahrer sollte nämlich mit dem Leben davonkommen, wenn er am Kuhhirtenturm irgendein Zeichen der Reue oder nur der Erinnerung gezeigt hätte. Aber dann war es doch anders gekommen. Er, Esterházy, hatte mehrere Schüsse abgefeuert.
Die Pistole lag vor ihm auf einem Platzdeckchen. Er lud sie mit neuen Patronen. „Die sind für mich, falls die Bullen kommen“, sagte er, während er zum Foto seiner Frau blickte.
Was die Zukunft betraf, hatte sich Esterházy keinerlei Zwang auferlegt. Alles würde sich schon weisen, wenn es soweit war. Damit hatte er sich stets beruhigt, wenn es um die Zeit nach Jens Auers Tod ging.
Die Uhr zeigte zehn vor elf. Er war überhaupt nicht müde, obwohl er noch nicht geschlafen hatte. Zum bestimmt fünfzigsten Mal stand er auf, schob die Gardine zur Seite und starrte in der Erwartung auf die Straße, die Polizei käme ihn abholen. Aber nichts dergleichen geschah. Einsam und verlassen wie er selbst lag der Goldbergweg vor dem Haus.
Daß nun alle Möglichkeiten vor ihm lagen und er sich bloß entscheiden brauchte, behagte ihm nicht. Er könnte sich nun selbst richten, so tun, als wäre alles beim alten, ins Ausland abhauen oder einfach mit dem Morden weitermachen. Zu tun gäbe es noch viel. Und dann wurde Karel Esterházy auch noch zynisch: ‚Schön wäre es, wenn alle Autofahrer, die einen anderen Menschen totgefahren haben, sei es aus Unachtsamkeit, sei es wegen Trunkenheit am Steuer, einfach bei mir antanzten und sich der Reihe nach aufstellten, damit ich sie liquidieren kann. Nicht ich bin der Mörder. Ihr mit euren tödlichen Geschossen seid die Mörder. Eine Welt ohne Automobile. Schön
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