Das Geheimnis von Digmore Park
Blick nach links, ein Blick nach rechts, zwei lange Gänge, viele hohe, verschlossene Flügeltüren. Nun denn! Elizabeth holte tief Luft, umklammerte den Schlüssel in ihrer Tasche und schlich behände in den linken Flügel. Sie versuchte möglichst sachte aufzutreten, allein, die Bretter des Holzbodens knarrten dennoch. Vor der ersten Tür blieb sie stehen und lauschte. Diesmal waren keine Stimmen zu vernehmen, alles war ruhig. Elizabeth eilte weiter. Die nächsten Türen überging sie, ihr Augenmerk galt ganz allein der letzten Tür des schnurgeraden Flurs, Major Dewarys Zimmertür. Ihr Herz klopfte so stark, dass sie es in den Ohren zu hören glaubte. Sie war im Begriff, in das Gemach jenes Mannes einzudringen, den sie so gerne näher kennengelernt hätte. Und den sie nie näher kennenlernen würde. Wenn sie wollte, konnte sie die Tür hinter sich zuziehen und abschließen. Sie könnte seine Schreibtischladen öffnen, Briefe lesen, vielleicht fand sie ein altes Tagebuch. Schrieben junge Männer Tagebuch? Sie rief sich zur Ordnung. Nichts von alldem würde sie tun! Ihre Neugier und die tiefe Sehnsucht, dem Mann, den sie liebte, möglichst nahe zu sein, unterlagen ihrem untrüglichen Gefühl für Anstand. Ihre Finger zitterten, als sie den Schlüssel ins Schlüsselloch steckte, und … er passte! Ohne jedes Geräusch ließ er sich drehen, bis das Schloss aufschnappte. Sie öffnete die Tür und stellte überrascht fest, dass es sich um eine Doppeltür handelte. Zum Glück war die innere Tür nicht verschlossen. Mit pochendem Herzen blickte sie in den Raum hinein. Ihre Augen suchten die Wände ab. Doch so sehr sie sich auch anstrengte, nirgends entdeckte sie eine geheime Tapetentür.
„Es ist spannend, ein fremdes Haus zu erkunden, nicht wahr, Miss Porter?“
Elizabeth erschrak so sehr, dass sie einen spitzen Schrei ausstieß. Mit einem Satz fuhr sie herum und warf die Tür hinter sich zu. Wenig überraschend war es wieder Mylords Kammerdiener, der nur ein paar Schritte hinter ihr stand.
„Sie haben mich erschreckt, Mr. …!“
Sie ließ den Satz absichtlich in der Luft hängen. Vielleicht würde er sich ja jetzt vorstellen. Wenn er den Namen „Jennings“ aussprach, dann würden sie sich vieles ersparen können. Doch der Kammerdiener sagte nichts dergleichen. Er sagte überhaupt nichts, sondern blickte sie unter seinen buschigen Augenbrauen weiter fragend an. Elizabeth wurde nervös. Wie sollte sie ihm ihr Hiersein erklären, ohne Dewarys Pläne zu gefährden? Was, wenn er die Herausgabe des Schlüssels verlangte? Das konnte sie ihm nicht gut verwehren. Allerdings konnte sie auch nicht Gefahr laufen, Dewary vor verschlossenen Türen stehen zu lassen. Und noch viel schlimmer: Was, wenn der Hausherr ausrichten ließ, dass die Anwesenheit von Lady Portland und ihrer Tochter nach diesem Vorfall auf Digmore Park nicht mehr länger erwünscht war? Sie hätte es ihm nicht einmal verdenken können.
„Ich habe Sie am Mittwoch gesehen!“ Hieß es nicht immer, dass Angriff die beste Verteidigung war?
Der Kammerdiener nickte. „Ich erinnere mich gut daran, Miss Porter.“
Elizabeth blieb vor Staunen fast der Mund offen stehen. Sie hatte nie und nimmer damit gerechnet, dass der Mann einfach zugab, sie mit seinem Pferd verfolgt zu haben. Seine nächsten Worte holten sie jedoch in die Wirklichkeit zurück. „Es war hier auf diesem Flur. Wir haben uns sehr nett unterhalten …“
Elizabeth beschloss, sich noch einen Schritt weiter zu wagen. „Sie wissen, dass ich das nicht gemeint habe, Mr. Jennings. Sie sind doch Mr. Jennings?“
Ihr lauernder Blick schien ihn zu amüsieren. „Es tut mir leid, Sie enttäuschen zu müssen, aber, nein, ich bin nicht Mr. Jennings. Mr. Jennings hat seinen wohlverdienten Ruhestand angetreten und Digmore Park schon vor Monaten verlassen.“
„Aber Sie wissen, wo er ist!“ Das war ein Schuss ins Blaue.
Der Kammerdiener schüttelte den Kopf. „Ich habe nicht die geringste Ahnung. Wissen Sie es denn?“
Elizabeth beeilte sich, ebenfalls den Kopf zu schütteln.
„Dann wissen wir es also beide nicht“, fasste der Kammerdiener zusammen.
Und Sie könnten wieder auf Ihr Zimmer gehen!, dachte Elizabeth. Doch der Mann dachte nicht daran.
„Miss Porter, spielen Sie Schach?“, wollte er stattdessen wissen.
Elizabeth neigte den Kopf. Hatte sie sich eben verhört? Was war das bloß für ein seltsamer Mensch? Er musste um die sechzig sein, doch seine stets wachsamen Augen ließen ihn
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