Das Geheimnis von Digmore Park
letzten Tagen vorgesetzt bekommen hatte. Und es roch auch bedeutend vielversprechender! Er bedankte sich bei dem Mädchen, sperrte ab und setzte sich zu Tisch. Das war also seine Henkersmahlzeit. Nun hatte er doch größeren Hunger, als er gedacht hatte. Außerdem musste er bei Kräften bleiben. Wer wusste denn, wann er das nächste Mal etwas zu essen bekommen würde? Zur Abendessenszeit würde er bereits auf Digmore Park sein. Doch es war höchst unwahrscheinlich, dass man ihn zu Tisch bitten würde.
Warum hatte Vater ihn nur in diese missliche Lage gebracht und den Friedensrichter verständigt? Die Erkenntnis, wie wenig ihm seine Lordschaft vertraute, schmerzte ihn viel mehr, als er zugeben wollte. Vater hätte ihm zumindest die Möglichkeit geben müssen, sich zu verteidigen. Und dann erst Edward! Sicher hatte er das Seine dazu beigetragen, das Misstrauen des alten Herrn zu schüren. Zugegeben, es war ein schrecklicher Zufall, dass es gerade Edward war, der den Leichnam seiner Mutter fand, doch musste er sich so bitter an ihm, seinem Cousin, rächen? Warum verurteilten ihn alle? Wer würde den größten Nutzen aus seinem Tod ziehen? Edward, immer wieder Edward! Und doch, er konnte, er wollte es nicht glauben. Natürlich, Edward hatte selten eine Gelegenheit ausgelassen, ihm, seinem jüngeren Cousin, übel mitzuspielen. Als Kind war er oft völlig überraschend aufgetaucht und hatte ihm blitzschnell das Bein gestellt. Es hatte Edward ein diebisches Vergnügen bereitet, ihn der Länge nach auf das steinige Pflaster des Vorplatzes hinschlagen zu sehen. Später, als sie beide die Schule in Eton besuchten, gingen viele derbe Scherze eigentlich auf das Konto von Edward, doch er verstand es meisterhaft, alles ihm in die Schuhe zu schieben. Dass seine Mama, Lady Barbara, ihren Sohn durchschaute und Strafpredigten für angemessen hielt, trug auch nicht dazu bei, Gefühle der Freundschaft oder verwandtschaftlicher Zuneigung für seinen Cousin zu verstärken. Als sie beide ins heiratsfähige Alter kamen, musste Edward zu seinem sichtlichen Verdruss miterleben, dass er, sein Vetter, Mittelpunkt jeder Gesellschaft war. Was hätte er denn machen sollen? Er sah besser aus als Edward. Um das festzustellen, brauchte es nicht die geringste Portion Eitelkeit. Obwohl Edward durchaus wohlhabend war, war er selbst reicher und hatte, im Gegensatz zu ihm, die Aussicht auf den Titel eines Earls. War das alles der Grund, dass er ihm jetzt einen Mord unterschieben wollte? Er selbst hatte doch immer versucht, mit Edward halbwegs gut auszukommen. Ja, er hatte ihn sogar eine Zeit lang zu Vergnügungen mitgenommen. Leider erwies Edward sich nicht als dieser Aufmerksamkeit würdig. Er benahm sich unverschämt und launenhaft, sodass ihn viele seiner Freunde baten, ihnen die Gesellschaft seines Cousins künftig zu ersparen. Dass der noble „Four Horses Club“ ihn alsbald als Mitglied aufgenommen hatte, stachelte Edwards Eifersucht noch weiter an. Dewary wusste, dass sein Vetter alle Hebel in Bewegung gesetzt hatte, um ebenfalls in diesen Verein der besten Kutschenlenker aufgenommen zu werden, die Aufnahme war ihm indes verwehrt geblieben. Dewary sah wieder das wutverzerrte, gerötete Gesicht seines Cousins vor sich und schüttelte den Kopf. Und noch etwas war Dewary in allzu deutlicher Erinnerung: seine spöttisch triumphierende Fratze, als er miterlebte, wie ihn Lady Abigail eiskalt hatte abblitzen lassen. Während er die Nähe zu Abigails Familie fürderhin mied, hatte Edward diese daraufhin umso stärker gesucht und rasch Freundschaft mit dem einzigen Sohn des Hauses geschlossen. Bertram war anerkanntermaßen ein Spieler und ein Tunichtgut. Er selbst machte um den Mann, wo er nur konnte, einen Bogen! Dewary seufzte. Es war wohl zu befürchten, dass er ihn nicht länger würde meiden können, wenn er erst einmal sein Schwager geworden war. Missmutig knallte er das Essbesteck auf den leeren Teller. Es passte ihm wahrlich nicht, dass Bertram sein Schwager wurde! Und noch viel grässlicher war die Vorstellung, den schrecklichen Lord Bendworth seinen Schwiegervater nennen zu müssen!
Sei nicht dumm. Dafür bekommst du Lady Vivian zur Frau, ermahnte er sich streng. Lady Vivian! Er versuchte sich an ihr Gesicht zu erinnern. An ihr herzförmiges Gesichtchen, an ihre dunklen, aufgesteckten Locken. Es gelang ihm nicht. Immer wieder schoben sich blaue Augen und blonde Locken in den Vordergrund. Elizabeth Porter! Wenn er ehrlich zu sich war, dann
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