Das Geheimnis von Digmore Park
bestimmte diese junge Frau schon längst fast jeden seiner wachen Gedanken. Und gestern erst hatte er auch in der Nacht von ihr geträumt. Er hatte sie in seinen Armen gehalten, hatte ihre weichen Lippen auf den seinen gespürt. Seine Hände hatten die Rundungen erforscht, die sich deutlich unter ihrem zarten Musselinkleid abzeichneten. Er war lächelnd aufgewacht und doch traurig darüber, dass dieser verheißungsvolle Traum so jäh geendet hatte. Oh Gott, wie sehr wünschte er, dieser Traum könnte Wirklichkeit werden! Doch er war Lady Vivian versprochen, und ein Ehrenmann brach ein solches Versprechen nicht. Auch wenn er es völlig übereilt gegeben hatte und seine Braut kaum kannte. Ein Hoffnungsschimmer keimte auf: Vielleicht würde Lord Bendworth seiner Tochter die Heirat mit ihm verbieten? Noch hatte er ihn nicht um seine Zustimmung gefragt, noch war die Verbindung nicht offiziell bekanntgegeben worden, noch konnte Lady Vivian die Verlobung lösen, ohne damit Aufsehen zu erregen. Von ihm konnte der Wunsch nach Trennung nicht ausgehen. Er war ein Ehrenmann. Ja, er war ein Ehrenmann! Auch wenn ihn derzeit jeder für einen gemeinen Verbrecher zu halten schien! Sogar sein Vater, der Mann, den er noch mehr als seine Freunde liebte und respektierte! Dewary schwor sich zum wiederholten Male: Er würde alles daransetzen, um seinen Ruf wieder reinzuwaschen!
Endlich war es halb sechs am Abend. Endlich war es Zeit aufzubrechen! Mit gemächlichen Schritten ging er die Treppe hinunter, über den lehmigen Boden des Hinterhofs zu dem Bretterverschlag, in dem Jupiter eingestellt war. Er zwang sich, nicht zu laufen, das würde Neugier erwecken, und Neugier war das Letzte, was er jetzt brauchen konnte. Da beugte sich Milly auch schon aus dem Küchenfenster und rief ihm nach: „Sie reiten noch aus, Sir? Ist das nicht schon etwas zu spät dazu heute?“
Er drehte sich zu ihr um. Besser, er blieb freundlich. Außerdem konnte er ihr so eine Botschaft zukommen lassen.
„Ich bin eingeladen, bei einem Freund hier in der Gegend. Wundern Sie sich also nicht, wenn Sie mich morgen früh nicht auf meinem Zimmer vorfinden.“ Er zwang sich zu einem Lachen. „Wer weiß, ob ich heute Nacht noch in der Lage sein werde, mich aufrecht auf meinem Pferd zu halten.“
Milly stimmte in sein Lachen ein. „Ich verstehe, Sir! Dann wünsche ich Ihnen viel Spaß, und sehen Sie zu, dass Sie nicht allzu viel am Spieltisch verlieren, damit Sie hier noch die Zeche berappen können!“
„Ich werde mein Bestes geben!“, versprach er und holte Jupiter aus dem Verschlag.
Bis zu der Stelle, an der sich der Weg gabelte und er sich auf den Besitztümern seines Vaters befand, brauchte er kaum eine halbe Stunde. Natürlich kannte er hier jeden Stein, jede Lichtung im Wald, alle kleinen, verwinkelten Wege. Hätte er die Auffahrt genommen, er wäre an den wachsamen Augen des Pförtners nie ungesehen vorbeigekommen. Würde ihn der alte Murray wirklich aufhalten und den Männern des Richters übergeben? Er konnte sich das beim besten Willen nicht vorstellen – doch es war in den letzten Wochen viel zu viel Unvorstellbares geschehen, als dass er sein Glück hätte auf die Probe stellen wollen. So ritt er in einem weiten Bogen am Pförtnerhaus vorbei, über den Rücken des Pferdes geduckt durch das Dickicht des Waldes. Es war kaum anzunehmen, dass die Wachen sein Kommen bemerken würden. Einzig der Vorplatz bereitete ihm Kopfzerbrechen. Charlie hatte gesagt, dass am Hintereingang Tag und Nacht ein Bewaffneter stand, also konnte er nur den Vordereingang benutzen. Das hieß, auch wenn er sich eine Weile hinter der hohen Ligusterhecke versteckte, die letzten gut zwanzig Meter musste er auf dem offenen, mit Kies bestreuten Platz zurücklegen. Gebe Gott, dass die Wachen zu dieser Stunde tatsächlich im Gemüsegarten waren. Und gebe Gott, dass Charlie nicht dabei erwischt worden war, als er den Riegel der Haustür zurückschieben wollte. Durch die hohen, schlanken Stämme der Nadelbäume blitzte das dunkle Gelb seines Elternhauses hindurch. Wie wohltuend war dieser Anblick sonst immer gewesen, wenn er nach einer langen Reise zurückkam! Nun jedoch stellten sich ihm die Nackenhaare auf. Nie hätte er gedacht, dass er sich einmal heimlich würde anschleichen müssen!
Dann war es Zeit abzusitzen. Dewary band Jupiter an einem der Bäume fest, ließ ihm aber genügend Zügellänge, dass er das Gras erreichen konnte. Er sah auf die Uhr. Ein Glück, dass es zu dieser
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