Das Geheimnis von Melody House
läge, wie Nebel. Es war inzwischen einiges an Zeit verstrichen, und sie wanderte zwischen den knorrigen Bäumen und den alten und neuen Gräbern des Friedhofs umher. Joshs Ruhestätte lag unter einer großen alten Eiche. Sie ging darauf zu, ganz in Schwarz gekleidet und mit einem bunten Blumenstrauß in der Hand.
Und dann …
Beim Näherkommen sah sie einen extrem schlanken Mann unter dem Baum stehen. Als sie erstaunt auf ihn zuging, entdeckte sie, dass es Josh war.
Er sah sehr gut aus in seinem dunklen Anzug, dem weißen Hemd und dem dunkelroten Halstuch, die Sachen, in denen er beerdigt worden war. Sein dunkles Haar war frisch geschnitten und ordentlich gekämmt, so wie er es an dem letzten Abend getragen hatte. Er lehnte mit lässig verschränkten Armen am Baumstamm und lächelte sie an, während sie auf ihn zu lief.
Einen Moment lang fürchtete sie sich. Aber wirklich nur einen ganz kurzen Moment.
“Josh?”
“Darcy, arme Darcy”, sagte er leise. Sein bedauerndes Lächeln erinnerte sie an das Lächeln seines Vaters, als er am Sarg seines Sohnes mit ihr gesprochen hatte. “Darcy, ich wollte dir nur Bescheid sagen. Es ist okay. Glaub mir, wirklich, es ist absolut okay.”
“Es ist überhaupt nicht okay, dass du tot bist.” Sie stutzte, weil sie zu ihrem Erstaunen feststellte, dass sie direkt ein bisschen böse auf ihn war. “Du wusstest es, Josh! Du wusstest, dass du sterben würdest. An dem Tag, an dem Mike dir drohte, sagtest du, dass du vielleicht sterben würdest, er gewiss aber auch. Und das ist er! Er ist auch gestorben!”
“Ich weiß, es tut mir Leid. Er war ein echter Dreckskerl, aber ich hasse ihn trotzdem nicht.”
“Josh …”
“Ich muss jetzt gehen, Darcy. Ich wollte dir nur sagen, dass es mir gut geht. Es geht mir wirklich gut. Und du musst dein Leben weiterleben.”
“Das werde ich, Josh, aber … ich hätte nie geglaubt, dass ich dich so sehr vermisse”, flüsterte sie.
Er berührte ihr Haar. So kam es Darcy jedenfalls vor. In Wirklichkeit war es natürlich nur der Wind, der mit den Strähnen spielte.
“Ich werde immer bei dir sein, Darcy. Denk einfach an mich, wenn du mich brauchst. Ganz tief da drin.” Er legte sich die Hand aufs Herz.
“Oh, Josh.”
Er verblasste. Verschmolz einfach nach und nach mit dem silbernen Nebel. Natürlich. Es war ein Traum. Ein durch das Schlafmittel hervorgerufener Traum.
Er lächelte. “Du bist etwas ganz Besonderes, Darcy. Ich habe es dir schon immer gesagt. Und du wirst sehr stark sein müssen”, sagte er leise.
Dann war er fort.
Es begann am nächsten Tag.
Ihr Vater hatte beschlossen, nicht ins Büro zu gehen, und auch ihre Mutter war zu Hause geblieben. Ihre Eltern wollten den Tag mit ihr verbringen und in die nahe gelegenen Berge fahren. Diese herrliche Gegend von Pennsylvania schien ihnen genau das Richtige für ihre Tochter zu sein, um einfach ein wenig auszuspannen und die Natur zu genießen.
Und dann konnte ihr Vater seinen Palmtop nicht finden.
“Du hast ihn auf der Konsole in eurem Bad liegen gelassen”, sagte sie.
“Woher um alles in der Welt willst du das wissen, Liebling? Warst du in unserem Schlafzimmer?” fragte ihr Dad.
“Nein”, sagte Darcy, selbst überrascht. “ Ich habe nur … na ja, ich nehme an, es ist einfach ein Platz, wo du ihn liegen gelassen haben könntest.”
Er ging nach oben in das ans Schlafzimmer ihrer Eltern grenzende Bad, und als er mit seinem Palmtop zurückkehrte, schaute er sie merkwürdig an. “Danke. Ich nehme an, du kennst deinen alten Herrn ziemlich gut, was?”
Natürlich, das war es.
Aber dann … Ab und zu blitzte vor ihrem geistigen Auge irgendetwas auf – Bruchstücke nur, entfernt bekannte Bilder, die Darcy dennoch nicht recht zuzuordnen vermochte. In diesem Sommer passierte ihr das nur gelegentlich, ein paar Mal auch während ihrer ersten Jahre auf dem College, später jedoch trat dieses Phänomen öfter auf.
Anfangs war es verstörend. Dann gewöhnte sie sich daran. Sie nahm es als etwas, das ihr Josh auf höchst seltsame Weise hinterlassen hatte.
Bis sie aber beschloss, Joshs Vater anzurufen, sollte noch eine Weile vergehen.
Das war erst, als die Geister kamen.
1. KAPITEL
J eannie Mason Thomas lag im Lee-Zimmer von Melody House in dem breiten, weiß bezogenen Baldachinbett und schwelgte in reinster Glückseligkeit.
Roger neben ihr schnarchte leise vor sich hin. Männer, dachte sie zärtlich. Die haben es gut. Sie können in jeder Lebenslage schlafen, ganz
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