Das Geheimnis von Turtle Bay
sein Körper war über die Jahre hinweg von schwerer körperlicher Arbeit gestählt worden. Das stets auf wenige Millimeter gestutzte Haar war schon vor langer Zeit ergraut und unterstrich seine abstehenden Ohren ebenso wie die eng stehenden Augen. Krahenfüße prägten die Augenwinkel und passten zu den tiefen Sorgenfalten, die sein Gesicht durchzogen. Sam hatte noch nie eine Sonnenbrille oder eine Baseballkappe getragen.
Bree erinnerte sich an die Zeit, als sie Tag und Nacht mit Ted zusammen war. Schon da hatte sein Vater – inzwischen ein vierundsechzig Jahre alter stolzer Vietnam-Veteran – stets so ausgesehen, als sei er auf etwas oder jemanden wütend, selbst wenn das gar nicht der Fall war. Aber seit ihrer Trennung von Ted schien Sam außer Zorn auch tatsächlich nichts mehr zu empfinden.
Bis heute hatte er ihr nicht verziehen, dass sie sich nach fast fünf Jahren von seinem einzigen Sohn trennte, mit dem sie zweieinhalb Jahre auf der Highschool und weitere zwei Jahre auf dem College zusammen gewesen war. Mit der Trennung war nach Sams Meinung eine Abfolge von Ereignissen ausgelöst worden, die schließlich tödlich ausgingen. Als Bree Turtle Bay verließ, um mit Ted aufs College in Miami zu gehen, da eröffnete sich ihr eine neue Welt, während sich Ted von einer unerwartet engstirnigen Seite zeigte.
Er reagierte eifersüchtig auf ihre neuen Freunde und auf ihre Tauchschüler, ihn störte es sogar, wenn sie Zeit mit Daria verbrachte. An den Wochenenden wollte er nach Hause fahren, sie dagegen genoss die Zeit in Miami. Ihm gefiel es gar nicht auf dem College, sie dagegen blühte dort auf. Womöglich war er so besitzergreifend, weil seine Mutter ihn und Sam verlassen hatte, als er noch die Grundschule besuchte. Doch es half nichts, wenn sie seine Beweggründe zu verstehen versuchte. Bree kam mit ihm einfach nicht mehr zurecht, doch als sie ihm erklären wollte, welches Problem sie mit ihm hatte, da stürmte er aus dem Zimmer und ging zu den Marines – zur Fremdenlegion, wie Daria es bezeichnete –, ohne einem Menschen davon zu erzählen. Nicht mal sein Vater hatte es gewusst.
Während Ted seine Grundausbildung in Paris Island, South Carolina, absolvierte, begann Sam Travers seinen Privatkrieg gegen Bree. Seiner Meinung nach war es allein ihre Schuld, dass Ted im letzten Jahr bei einem Bombenanschlag im Irak ums Leben kam. Und als Ted dann mit allen militärischen Ehren beigesetzt wurde, platzte Sam der Kragen und er untersagte ihr, zur Beerdigung zu kommen. Daria war daraufhin allein hingegangen. Das angespannte Verhältnis erfuhr natürlich keine Besserung, als sie in Sams Einzugsgebiet ihr eigenes Bergungsunternehmen eröffneten, auch wenn das viel kleiner und spezialisierter war.
Nun stand er da in der Tür und betrachtete sie mit finsterer Miene. Unter normalen Umständen wäre sie froh gewesen, Sam Travers nicht mal von hinten sehen zu müssen, doch sie brauchte seine Hilfe.
„Hi“ , begrüßte er sie. Seine gewohnt schneidende Stimme kam ihr noch lauter vor als sonst. „Ich suche eigentlich Manny. Im Fernsehen haben sie gesagt, dass du immer noch im Krankenhaus liegst. Ich wollte ihm nur sagen, ich war draußen und habe nach Daria gesucht.“
Bree blieb hinter dem Schreibtisch stehen. „Trotzdem vielen Dank. Ich wollte dich auch noch anrufen, aber ich musste erst bei der Küstenwache und der Air Patrol nachfragen, ob sie schon etwas entdeckt haben.“
„Die sind im Redenschwingen besser als im Suchen. Wenn du was wiederfinden willst – oder in dem Fall: jemanden –, dann rufst du Sam an. Wir beide haben ein paar Differenzen, aber gegen Daria hab ich nichts. Ich fahr jetzt noch mal raus.“
Ein paar Differenzen? In den letzten drei Jahren war sie von Sam wieder und wieder beschimpft worden, und wenn er getrunken hatte, war es sogar so schlimm, dass sie sich inzwischen vor ihm fürchtete. So sehr sie auch mitfühlen konnte, dass er um Ted trauerte, hatte sie doch ein paarmal mit dem Gedanken gespielt, eine Unterlassungsverfügung gegen ihn zu erwirken, damit er sie in Ruhe ließ. Ihr Schwager und Anwalt Ben hatte ihr das empfohlen, dennoch konnte sie sich nicht dazu durchringen, da es ihr so vorkam, als würde sie Sam gegenüber Schwäche eingestehen. Es änderte nichts daran, dass er dicht davor zu sein schien, sich wie ein Stalker zu benehmen. Wiederholt war es ihr und Daria so vorgekommen, er verfolge sie auf Schritt und Tritt.
„Ich kann dir gar nicht genug für deine Hilfe
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