Das Geheimnis von Vennhues
kam nicht dazu, etwas zu erwidern. Die Wohnzimmertür flog auf, und Annette Osterholt erschien mit einem überraschten Gesichtsausdruck. Sie trug noch ihren Mantel, und in der Hand hielt sie ein Grablicht, das offenbar für die Andacht auf dem Friedhof bestimmt war.
»Ah, Annette.« Norbert eilte auf sie zu und nahm ihr die Kerze aus der Hand. »Gut, dass du da bist. Bernhard und seine Kollegin wollten gerade gehen. Du kannst sie also zur Tür bringen.«
Annette Osterholt sah unsicher zu den beiden Polizisten, dann wieder zu ihrem Mann. Hambrock und Heike tauschten ebenfalls einen Blick. Sie nickten sich unmerklich zu.
»Also gut«, sagte Heike. »Wir gehen. Danke, dass Sie unsere Fragen beantwortet haben. Einen angenehmen Feiertag noch.«
Sie nahmen ihre Mäntel und gingen an einer erstaunten Annette Osterholt vorbei zum Ausgang.
Am Dienstwagen angekommen, stieß Heike die Luft aus.
»Der hat ja ganz schön überreagiert.«
»Stimmt. Wir sollten so schnell wie möglich Jennifer befragen. Bevor er die Möglichkeit bekommt, sie einzuschüchtern.«
Heike setzte sich ans Steuer und startete den Wagen. Hambrock zog sein Handy hervor, das er während des Gesprächs mit Osterholt ausgeschaltet hatte. Auf dem Display erkannte er, dass Philipp Häuser angerufen hatte. Mit einem Stirnrunzeln drückte er die Rückruftaste. Gleich beim ersten Läuten war der Praktikant am Apparat.
»Mensch, Chef! Gut, dass Sie anrufen! Es gibt interessante Neuigkeiten aus der Rechtsmedizin.«
»Immer heraus damit.«
»Raten Sie doch mal!«
Doch bevor Hambrock etwas erwidern konnte, beeilte sich der Praktikant hinzuzufügen: »War nur ein Spaß! Also: Anhand der Blutablaufspuren und weiterer Einzelheiten, die ich kaum verstanden habe, konnte der Tatablauf genau rekonstruiert werden. Das Interessante ist: Die Einstiche im Analbereich sind postmortaler Natur. Das bedeutet, das Opfer war längst tot, als der Täter ihm den Arsch zerschnitten hat.«
»Ich weiß, was das bedeutet«, gab Hambrock zurück. »Interessanter ist der Schluss, der sich daraus ziehen lässt.«
»Ganz genau«, sagte Philipp. »Die Schnitte im Analbereich könnten dem Opfer zugefügt worden sein, um den Eindruck entstehen zu lassen, es handle sich um eine Sexualstraftat. Tatsächlich aber hatte die Tat gar keinen sexuellen Charakter. Habe ich Recht?«
»Ich gebe es ungern zu«, sagte Hambrock mit einem Lächeln. »Aber ich fürchte, Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen.«
Der Junge ist tot.
Gertrud Große Dahlhaus stand mit dem Spaten im Gemüsebeet und starrte unverwandt auf den Laubhaufen, den sie eben erst aufgeschichtet hatte. Ein schwülwarmer Wind war aufgekommen und hatte die Blätter wieder auseinandergeblasen.
Er ist tot.
Sie spürte nichts. Da war kein Gefühl, nirgends. Ihr Körper war nicht mehr als eine tote Hülle, alles in ihr war erstarrt.
Mein Junge, dachte sie. Mein Kind.
Klemens hatte sich davongestohlen. Nervenzusammenbruch, hatten die Ärzte gesagt. Er lag nun im Krankenhaus und war nicht ansprechbar. Und sie war wieder einmal allein mit allem.
Die beiden jüngeren Kinder waren völlig verstört. »Sie müssen mit Ihren Kindern reden, Frau Große Dahlhaus«, hatte eine Schwester im Krankenhaus gesagt. »Das ist jetzt das Allerwichtigste.« Das wusste sie selbst. Natürlich musste sie mit ihnen reden.
Aber was sollte sie ihnen sagen? Es gab nichts zu sagen.
Im Augenblick schliefen sie. Die beiden waren erschöpft ins Bett gefallen. Nach all dem, was passiert war in der vergangenen Nacht. Doch sie würden irgendwann wieder aufwachen. Und was dann?
Sie nahm den Spaten und drückte ihn tief durch die abgestorbenen Wurzeln der Gartenpflanzen. Wieder und wieder. Sie wollte erst aufhören, wenn das gesamte Beet umgegraben war.
Ein Katzenjunges kam aus der Scheune. Es war eine der Stoppelkatzen, wie sie den späten Wurf der Hofkatze nannten, der erst im Herbst nach der Ernte zur Welt kam. Das Kätzchen blickte in jedes Loch, das Gertrud mit dem Spaten aushob, und jagte die Wurzeln, die aus dem lehmigen Boden herausragten. Schließlich sprang es in eine Furche hinein und spielte dort mit einem Grasbüschel.
Gertrud betrachtete es eine Weile, dann nahm sie den Spaten und setzte die Spitze vorsichtig auf den Rücken des kleinen Tieres. Sie drückte nur so fest zu, dass das Junge nicht entkommen konnte. Es merkte sofort, dass der Spaß vorbei war, und wand sich in plötzlicher Panik unter der Spatenspitze. Doch es gab nun kein
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