Das Geheimnis von Vennhues
von Annettes älterer Schwester Mia und ihrem Mann. Mia und ihr Mann sind jedoch tot, und so ist der Hof an Annette gegangen. Der Mann von Mia – und jetzt wird es interessant – hieß Kai van der Kraacht. Kai und Mia waren die Eltern von Willem van der Kraacht, dem Jungen, der vor dreiundzwanzig Jahren ermordet worden ist.«
Stille legte sich über den Gruppenraum. Alle schienen über diesen seltsamen Zufall nachzudenken.
»Wenn ich ergebnisoffen denken soll«, brach Philipp Häuser das Schweigen, »dann würde ich sagen: Wir haben dort ein Motiv für den ersten Mord. Annette Osterholt und ihr Mann haben Willem umgebracht. Der Tod des Jungen hat die Familie und den Hof ruiniert, und danach ist alles in den Besitz der hässlichen Schwester übergegangen. Annette hat also den Sieg davongetragen. Jetzt müssen wir uns nur noch überlegen, weshalb sie den Freund ihrer Tochter aus dem Weg räumen wollte.«
Heike zog die Stirn in Falten. »Das ist vielleicht doch ein bisschen arg konstruiert. Niemand konnte damals die Folgen des Mordes absehen.«
War es wirklich konstruiert?, fragte sich Hambrock. Wer die Vennhueser kannte, dachte da vielleicht anders. Kai hatte damals große Schwierigkeiten, als Fremder Fuß zu fassen, sein einziger Halt waren Frau und Hof. Und Mia wiederum liebte ihren Sohn mehr als alles andere auf der Welt. Brachte jemand diese Koordinaten durcheinander, war es leicht vorstellbar, dass am Ende alles in sich zusammenstürzen würde.
»Wir sollten nicht zu viel hineininterpretieren«, sagte Hambrock. »Schließlich haben wir immer noch die Tatsache, dass der Mord Züge eines Sexualverbrechens aufweist. Trotzdem werde ich nach Vennhues fahren und dem ehemaligen Hof Reckenfeld einen Besuch abstatten.« Er blickte nachdenklich in die Runde. »Dann werden wir sehen, ob das alles nur ein Zufall ist.«
Auf dem Flur vor dem Gruppenraum wartete seine Frau Erlend auf ihn. Sie lehnte in ihrem tiefschwarzen Trenchcoat an einem Türrahmen, lässig wie ein Cowboy aus einem Wildwestfilm. Lediglich ihre hochhackigen Schuhe und das lange kastanienbraune Haar durchbrachen die männliche Coolness. Hambrock entdeckte sie, und ihre Augen funkelten gleichzeitig böse und ironisch. Er spürte augenblicklich das schlechte Gewissen in sich aufsteigen. Er hätte sich längst bei ihr melden müssen. Woher sollte sie wissen, was er vergangene Nacht gemacht hatte?
Eilig verabschiedete er sich von den Kollegen und trat auf sie zu.
»Elli …«, begann er und hob bedauernd die Schultern.
»Ich dachte, ich komme mal vorbei und sehe nach, ob du nicht doch eine Geliebte hast.«
Ihrem Tonfall konnte er nicht entnehmen, ob sie nur einen Spaß machte.
»Bestimmt ist es eine Kollegin aus dem Büro, oder?«
»Ich wollte mich ja melden, das musst du mir glauben. Aber …«
»Die Sekretärin!«, ging sie dazwischen. »Es ist die Sekretärin.«
Eine raue Stimme am anderen Ende des Flurs ertönte. »Wie bitte?«
Erschrocken blickte Hambrock sich um. Frau Rettig, eine stets verhärmt wirkende ältere Dame aus dem Sekretariat, war plötzlich auf dem Flur aufgetaucht. Sie bedachte die beiden mit einem strengen Blick und strich sich affektiert über die Strickjacke. Offenbar hatte sie nur das Wort Sekretärin aufgeschnappt.
»Nichts, Frau Rettig, gar nichts«, stammelte Hambrock in dem Versuch, ernst zu bleiben. »Wir haben nur …« Doch da war es zu spät, und ein unterdrücktes Kichern brach aus ihm hervor. Elli musste ebenfalls lachen.
Frau Rettig streckte beleidigt das Kinn vor und ging erhobenen Hauptes den Flur hinunter, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen.
Hambrock sah ihr nach, bis sie im Treppenhaus verschwunden war.
»Wir haben einen Mordfall in Vennhues«, sagte er an Elli gewandt. »Es kam alles ganz plötzlich.«
»Ich weiß. Das habe ich im Radio gehört.«
Ihrer Stimmlage nach hatte sie ihm noch immer nicht ganz verziehen.
»Wenn ich lange nichts von dir höre«, fügte sie hinzu, »dann schalte ich das Radio an. Dort wissen sie meistens, was du gerade machst.« Sie seufzte. »Erst das Wochenende, und jetzt auch noch der Feiertag. Und ich dachte, wir hätten mal wieder ein bisschen Zeit für uns.«
»Das ist nun mal mein Job«, sagte er mit Bedauern. »Ich kann es leider nicht ändern.« Er hatte eine Idee. »Aber wie wäre es denn, wenn du mich einfach begleitest?«
»Nach Vennhues?«
»Natürlich. Ich lade dich bei meinen Eltern ab, dann führe ich rasch eine Befragung durch und komme nach.
Weitere Kostenlose Bücher