Das Geheimnis von Vennhues
Eine weite Ebene lag vor ihm.
An dieser Stelle teilte sich der Weg.
Hambrock zögerte. Er suchte die Gabelung ab, entdeckte jedoch keinen Hinweis darauf, in welche Richtung Gertrud gegangen sein könnte. Es gab weder Fußabdrücke noch andere Spuren.
Dennoch hatte er einen Verdacht, welchen Weg sie genommen haben könnte. Der Leichenfundort ihres Sohnes war nicht weit von hier entfernt. Hambrock überlegte nicht lange und lief weiter zur Vogelwarte.
Der Pfad wurde matschiger, und der torfige Untergrund federte unter seinen Füßen. Hambrock verlangsamte seinen Schritt. Zum Glück ging der Pfad in einen Bohlenweg über. Zwar waren die Holzplanken von Moos überwachsen, und die feuchte Oberfläche war gefährlich glatt. Dennoch hatte Hambrock das gute Gefühl, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben.
Er war nun an der Stelle angelangt, wo die Leichen der beiden Jungen aufgefunden worden waren. Aber von Gertrud fehlte noch immer jede Spur.
»Gertrud! Bist du hier?«
Es blieb alles still im nebligen Moor.
»Gertrud!«
Er ging langsam weiter und suchte den Sumpf nach Zeichen von ihr ab, gleichzeitig achtete er auf die rutschigen Planken. Die nähere Umgebung erforderte seine volle Konzentration, sodass er die Gestalt erst entdeckte, als sie nur noch knapp vierzig Meter entfernt war.
Unwillkürlich blieb er stehen. Er hielt den Atem an.
Es war nicht Gertrud, das erkannte er sofort. Es war ein Mann, der einen langen Umhang trug. Sein Gesicht lag unter einer Kapuze verborgen. Im Nebel konnte Hambrock kaum mehr als seine Silhouette ausmachen. Dennoch glaubte er zu sehen, dass der fremde Mann ihn anstarrte. Er stand völlig bewegungslos auf dem Pfad und wartete darauf, dass Hambrock näher kam.
Sein Herzschlag beschleunigte sich.
»Hallo!«, rief er ihm entgegen.
Keine Reaktion.
Er versuchte es noch einmal. »Hallo!«
Der Fremde stand unverändert da und blickte ihn an.
Hambrock dachte an die Geschichten, die sich die alten Leute früher im Dorf erzählt hatten. Demnach gingen im Moor die Toten um, deren Seelen keinen Frieden gefunden hatten. So sehr ihn diese Geschichten sonst amüsierten – im Augenblick war ihm gar nicht nach Lachen zumute.
Sein Gefühl sagte ihm, dass er umkehren und verschwinden sollte, solange es noch möglich war. Egal, was dort im Nebel auf ihn wartete, es wäre besser, keine Bekanntschaft damit zu machen.
Doch was sollte er später sagen, wenn ihn jemand fragte, weshalb er Gertrud allein im Moor zurückgelassen hatte? Er würde wohl kaum erzählen können, dass ihn ein Gespenst verjagt hatte.
Also trat er mit klopfendem Herzen einen Schritt auf die Gestalt zu, und dann noch einen. Es schien, als würde der Fremde in einer Nebelschwade versinken. Doch sofort traten seine Konturen wieder hervor. Hambrock bemerkte nun, dass der Mann klein war. Außergewöhnlich klein sogar.
»Entschuldigen Sie bitte«, rief er ihm entgegen. »Ich suche eine Frau. Sie muss hier …«
Er stockte.
Ein Verdacht drängte sich ihm auf, und schließlich wurde der Zweifel zur Gewissheit. Dort war niemand. Vor ihm auf dem Weg stand ein zurechtgesägter Baumstamm, der den Motorrädern das Rasen im Naturschutzgebiet erschweren sollte.
Hambrock atmete aus. Der Nebel und das Moor hatten ihm einen Streich gespielt. Einen Mann in einem Umhang hatte es niemals gegeben. Erleichtert stützte er sich an dem Baumstamm ab.
Er wollte weiter nach Gertrud Ausschau halten, als ein langgezogener Schrei durch das Moor schallte. Hambrock hob den Kopf und lauschte. Ein weiterer Schrei folgte. Kurz und voller Schmerzen.
Jemand war in Not. Weiter hinten, im Hochmoor, an der Grenze zu den Niederlanden. Er hatte den falschen Weg genommen. Gertrud war auf der anderen Seite. Mit einem Fluch blickte er über die Ebene, die sich im Nebel verlor. Dann begann er zu laufen, dem Schrei entgegen.
Du musst auf den Wegen bleiben, rief er sich in Erinnerung. Keinesfalls darfst du querfeldein durchs Moor. Ganz egal, wie nah die Rufe scheinen. Wenn du ins Moor rennst, dann kann es passieren, dass du nicht mehr hinausfindest.
Norbert Osterholt stand auf einem der wackligen Bretterstege, die von der Biologischen Station im Naturschutzgebiet erstellt worden waren. Vor ihm lag die weite Fläche des Hochmoors. Zu seiner Linken ging die Ebene in einen lichten Bruchwald über, und dort irgendwo war auch der Wanderweg, der nach Vennhues führte.
Das Licht jedoch hatte in der Ebene geleuchtet. Das glaubte er zumindest. Aber wohin er auch
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