Das Geheimnis von Vennhues
»Dieser Nebel macht mich ein bisschen nervös. Ich möchte lieber nicht zu lange darüber nachdenken, dass noch ein Mörder frei herumläuft.«
Hambrock lächelte. Er gab ihr einen flüchtigen Kuss, dann stieg er aus dem Wagen.
»Ich beeile mich«, sagte er. »Es dauert nur ein paar Minuten.«
Er warf die Autotür ins Schloss und zeigte ihr den erhobenen Daumen. Dann lief er über den Kirchhof und folgte Gertrud Große Dahlhaus in den Nebel. Elli sah ihm nach, bis er ebenfalls in der grauen Brühe verschwunden war. Dann drehte sie die Standheizung auf und suchte im Radio nach einem Song, der ihr gefiel. Doch sie bekam nur Werbeblöcke herein und aufgesetzt gutgelaunte Moderatoren, und so schaltete sie das Radio mit einem Seufzer wieder ab.
Nach einer Weile öffnete sie ihre Handtasche und fischte die Zigarettenschachtel hervor. Dann fiel ihr jedoch ein, dass sie in Bernhards Dienstwagen nicht rauchen durfte, und so schlug sie ihren Kragen hoch und trat auf den Parkplatz. Mit hochgezogenen Schultern zündete sie die Zigarette an und blies den Rauch in die kalte Luft.
Im Dorf war es völlig still. Niemand war unterwegs, mit dem sie ein Schwätzchen hätte halten können. Fast schien es ihr, als hätten die Vennhueser sich in ihre Häuser zurückgezogen, um dort das unheilvolle Wetter abzuwarten. Doch das war natürlich Unfug.
Sie lehnte sich an den Wagen und inhalierte den Rauch ihrer Zigarette. Dabei versuchte sie, nicht an den Mörder zu denken, der in Vennhues sein Unwesen trieb. Lange würde es nicht mehr dauern, sagte sie sich, dann käme Bernhard zurück. Und danach ginge es sofort im Eiltempo nach Münster.
Sie achtete nicht weiter auf den dunklen Wagen, der etwas abseits auf dem Parkplatz stand. Er würde irgendwelchen Verwandten gehören, die zum Festtagsbesuch gekommen waren, sagte sie sich, blickte wieder zur Kirche und zog an ihrer Zigarette.
Klamme Kälte suchte sich beharrlich einen Weg in Hambrocks Kleidung. Er zog den Mantel enger und blickte sich um. Es schien, als sauge der Nebel die Farben aus der Umgebung. Das Grün der Wiesen, das dunkle Braun der Haselsträucher und selbst das Laub der Heckenbuchen, alles wurde matt und stumpf im nassen Grau. Er entdeckte Gertrud Große Dahlhaus am Birkenhain, durch den man zum Prozessionsweg gelangte. Bildstöcke des Leidensweges Christi waren rund um die Klosterkirche aufgestellt worden, aber der Weg führte nirgendwohin.
Es sei denn, man wollte ins Moor, dachte Hambrock.
»Gertrud!«, rief er, doch sie schien ihn nicht zu hören. Er versuchte es wieder, diesmal etwas lauter: »Gertrud!«
Der Nebel verschluckte seinen Ruf. Es war, als stünde er in Watte.
Gertrud stolperte weiter zum Birkenhain. Kurz darauf war sie wieder verschwunden.
Er lief ihr nach, doch je näher er ans Moor gelangte, desto dichter und undurchdringlicher wurde der Nebel.
Auf dem Prozessionsweg rief er wieder ihren Namen, doch es blieb alles still. Alte Kopfeichen bildeten eine Allee, Grasnarben wucherten auf dem sandigen Weg und eroberten ihn nach und nach für die Natur zurück. Von Gertrud war nichts zu sehen.
Was hatte sie nur vor?
Er überlegte. Vielleicht war es möglich, über den Prozessionsweg zum Hof von Franz Heitmann zu gelangen. Doch warum sollte sie diesen Umweg nehmen, noch dazu bewaffnet mit einer Forke?
Nicht wichtig, sagte er sich. Er würde es herausfinden.
Mit schnellen Schritten lief er den Prozessionsweg hinunter. Nach einer Weile passierte er den Bildstock der Kreuzigung Christi, der von knorrigen Eiben umgeben war. Sein Blick fiel auf den Pfad, der hinter den Eiben abzweigte, und sofort hielt er inne. Er trat vorsichtig näher und ging in die Hocke. Im Schlamm zeichnete sich ein Fußabdruck ab. Ein kleines Rinnsal hatte sich darin gebildet, und Wasser lief in den Abdruck hinein. Er konnte gerade erst entstanden sein. Hambrock blickte den sumpfigen Pfad hinunter, der sich bereits nach wenigen Metern im Nebel verlor.
Seltsam, dachte er. Was wollte Gertrud nur im Moor?
Plötzlich schoss er in die Höhe. Er hielt erschrocken den Atem an.
Er erinnerte sich an Mia van der Kraacht. Auch sie war kurz nach dem Tod ihres Sohnes ins Moor gegangen. Sie hatte sich dort das Leben genommen. Hatte Gertrud Große Dahlhaus vielleicht etwas Ähnliches vor?
Hambrock begann zu laufen. Er musste es schaffen, sie einzuholen.
Er durchquerte den weitläufigen Bruchwald, doch so sehr er sich auch beeilte, er holte sie nicht ein. Schließlich gelangte er ins offene Moor.
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