Das Geheimnis von Vennhues
sah, alles war düster und grau.
Natürlich hatte Osterholt bereits von Irrlichtern gehört, die es in Mooren geben sollte. Früher erzählte man sich, dass es die ruhelosen Seelen von Selbstmördern und ungetauften Kindern waren, die als Flammen im Moor umhergingen. Doch falls es diese Flammen wirklich geben sollte, dann entstanden sie wohl eher durch Sumpfgas, das sich entzündete.
Trotzdem hatte er selbst noch nie eines dieser Lichter gesehen, genauso wenig wie sonst irgendein Vennhueser. Sie hatten immer geglaubt, in ihrem Moor gäbe es so etwas nicht. Doch nun würde er nicht mehr darauf schwören.
Er wollte ein paar Schritte ins Moor hineingehen, um einen besseren Überblick zu bekommen. Vorsichtig prüfte er mit dem Stiefel den Boden. Doch auf den ausgedehnten Bülten schien alles fest zu sein. Der Boden schwankte ein wenig unter seinen Füßen, doch mehr passierte nicht.
Die Dämmerung schritt voran, und im Nebel war kaum noch etwas zu erkennen. Dennoch blickte er lange in das ruhige Moor. Vielleicht kam es ja zurück, dieses seltsame Leuchten, und dann würde er es genauer beobachten können.
Er hatte Gertrud nicht kommen sehen. Sie war aus dem Bruchwald getreten und hatte sich ihm über den Steg genähert. Erst als sie nur noch wenige Meter von ihm entfernt war und ein morsches Brett unter ihren Füßen knackte, wirbelte er erschrocken herum.
Er erkannte das vertraute Gesicht, und trotzdem wusste er sofort, dass etwas nicht stimmte. Gertrud sah ihn kalt und abschätzig an. Es war ein Blick, den er noch nie zuvor bei ihr gesehen hatte. Sie trug eine Mistgabel in der Hand, die sie wie eine Waffe hielt.
»Gertrud …?«
Plötzlich lief sie ihm entgegen, hob die Mistgabel und stach zu. Osterholt verstand nicht, was passierte. Instinktiv wich er ihr aus. Er machte eine Drehung, rutschte über den Moosrasen und stolperte zurück. Die Zinken der Gabel verfehlten seinen Brustkorb. Gertrud wurde von der Wucht ihrer Bewegung nach vorn gerissen, rutschte mit der Gabel ab und traf ihn am linken Knie. Eine der Zinken schob die Kniescheibe hoch und bohrte sich mit der rostigen Spitze in die Weichteile des Gelenks.
Es dauerte, bis Osterholt begriff, dass der langgezogene Schrei aus seiner eigenen Kehle drang. Sein linkes Bein brach wie ein Streichholz weg. Er fiel auf das Moospolster, und die Zinke verdrehte sich im Knie. Ein weiterer Schmerzensschrei entfuhr ihm. Dunkelheit legte sich sanft über ihn. Er spürte, wie er in Bewusstlosigkeit wegsackte.
Er musste sich zusammenreißen. Gertrud wollte ihn töten. Er wusste nicht weshalb, doch das spielte auch keine Rolle. Wenn er überleben wollte, musste er fliehen. Er durfte nicht ohnmächtig werden.
Sie stellte sich über ihn. Ihr Blick war leer und ihre Bewegungen wie ferngesteuert. Sie nahm die Mistgabel und holte aus.
Weg hier!, dachte er. Nur weg hier!
Mit seinem gesunden Bein stützte er sich ab. Das andere zog er nach, und sofort flammte ein grenzenloser Schmerz auf. Wieder erfasste ihn ein dumpfer Schwindel, wieder drohte er ohnmächtig zu werden.
Die Gabel sauste nieder.
Er rollte zur Seite. Sein Körper drückte braunes Wasser aus dem Moospolster. Blasen stiegen auf, es gluckerte. Dann rutschte er ins kalte Nass.
Doch Gertrud stach daneben.
Die Gabel versank im torfigen Grund.
Osterholt schnappte nach Luft. Er zog sich an einem Büschel Wollgras aus dem Wasser. Dann robbte er auf seinen Ellbogen davon, hinaus in die Ebene. Vielleicht konnte er sich irgendwo verstecken. Vielleicht konnte er ihr so entkommen. Zentimeter um Zentimeter arbeitete er sich voran. Die Schmerzen in seinem Bein wurden unerträglich. Jeden Moment glaubte er sich übergeben zu müssen. Doch irgendwie musste er es schaffen. Er musste einfach.
Wieder war Gertrud über ihm. Sie umklammerte den Griff der Gabel, holte weit aus und ließ die Zinken niedersausen. Wieder rollte Osterholt zur Seite, doch dieses Mal entkam er ihr nicht. Die Zinken trafen ihn im Oberschenkel und drangen tief in die Muskulatur. Er schrie auf, vor Schmerzen und Entsetzen, und spürte wieder sein Bewusstsein schwinden. Seine Beine brannten vor Schmerzen, und es gab keine Chance mehr zu fliehen.
Gertrud holte aus. Dieses Mal würde sie ihn im Oberkörper treffen.
Osterholt schloss die Augen. Er bereitete sich auf den tödlichen Stoß vor.
Doch nichts geschah. Er öffnete schwach die Augen. Die Gabel war in der Luft erstarrt. Ein Mann war hinter Gertrud aufgetaucht. Er hielt sie fest und versuchte ihr
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