Das Geheimnis von Winterset
er würde Winterset verkaufen. Das war ein sehr kluger Entschluss, und Reed wusste, dass jeder vernünftige Mann - also ein Mann, der nicht unsinnigen romantischen Hirngespinsten nachhing - das Haus schon vor Jahren verkauft hätte. Nun war er daher nach Winterset zurückgekehrt, um über die für einen Verkauf notwendigen Renovierungen zu entscheiden, und vielleicht würde er auch noch so lange bleiben, bis alles seinen Vorstellungen entsprechend instand gesetzt war.
Sein Vorhaben war in der Tat so vernünftig und durchdacht, dass Anna unmöglich zu dem Schluss gelangen konnte, dass er ihretwegen zurückgekommen wäre. Und er war auch davon ausgegangen, dass seine Familie seine Entscheidung fraglos akzeptieren würde.
Das Haus hatte er vor drei Jahren erworben, als er auf einmal von der Idee besessen war, sich einen Landsitz zuzulegen, auf dem er fern von seiner geliebten, aber sehr exzentrischen Familie in Ruhe leben konnte. Er stellte es sich als sein Zuhause vor, in das er eines Tages seine Braut bringen und wo sie ihre Kinder großziehen würden. Bei seinen Erkundigungen war er auf Winterset gestoßen, ein weitläufiges Anwesen in Gloucestershire, das seit fast zehn Jahren leer stand. Früher war es der Familiensitz der de Winters gewesen, einer Adelsfamilie, deren Nachfahren über die Jahre immer weniger wurden, bis nur noch der letzte Lord de Winter übrig blieb. Lord Charles, der weder verheiratet war noch Kinder hatte, war vor zehn Jahren nach Barbados ausgewandert, und da er anscheinend nicht die Absicht hatte zurückzukehren, war das Haus von Sir Edmund Holcomb, de Winters Schwager und Bevollmächtigtem, zum Verkauf angeboten worden.
Eine Beschreibung und eine Zeichnung des Hauses hatten Reeds Interesse geweckt, und er war nach Gloucestershire aufgebrochen, um sich das Anwesen anzusehen. Allerdings hatte er nicht damit gerechnet, am Tag seiner Ankunft der Frau zu begegnen, die er zu seiner Braut machen wollte.
Das Haus und die Ländereien waren genau so, wie er sie sich vorgestellt hatte. Das Gebäude war aus honiggelbem Sandstein, weitläufig und elegant, mit einzelnen baulichen Extravaganzen, die ihm ein gewisses Etwas verliehen.
Er hatte es gekauft, war in den am besten erhaltenen Flügel gezogen, und während die Renovierung des Hauses voranschritt, machte er Anna Holcomb den Hof. Einige Wochen lang hatte er wie in einem glücklichen Traum gelebt, der allerdings an jenem Tag endete, als er um ihre Hand anhielt. Sie hatte ihn auf eine Weise abgewiesen, die keine Hoffnung ließ, dass sie es sich noch einmal anders überlegen würde. Am nächsten Morgen hatte Reed Winterset verlassen und war seitdem nicht mehr dort gewesen.
In seiner Familie hatte er niemandem erzählt, was sich vor drei Jahren auf Winterset zugetragen hatte, außer seinem älteren Bruder Theo, der ihm am nächsten stand und von dem er wusste, dass er ein Geheimnis für sich behalten konnte. Das Mitgefühl seiner Schwestern wäre eine Last für ihn gewesen: Es widerstrebte ihm, selbst den Menschen, die ihn liebten, etwas für ihn so Schmerzliches preiszugeben. Da in ihrer Familie alle zu mehr oder minder ausgeprägten Eigenheiten neigten, hatte es niemand verwunderlich gefunden, dass er das Haus, das er gerade erst gekauft hatte, schon wieder aufgab. Nun aber fürchtete Reed, dass seine Rückkehr nach Winterset zu den Fragen führen könnte, die er nach Möglichkeit vermeiden wollte. Deshalb hoffte er, dass sein Plan, das Haus zu verkaufen, lediglich als eine genau kalkulierte, rein finanzielle Entscheidung angesehen würde, für die sich in seiner Familie ohnehin niemand interessierte.
Genau so hätte es auch sein können. Es war allerdings ein Fehler gewesen, die Angelegenheit am Frühstückstisch zur Sprache zu bringen. Reed war davon ausgegangen, dass nur seine Mutter und sein Vater, vielleicht noch seine Schwester Thisbe und deren Mann Desmond zugegen wären. Alle vier interessierten sich wenig für Dinge, die nicht ihren eigenen Steckenpferden entsprachen, und würden daher seine plötzliche Entscheidung nicht weiter hinterfragen.
Doch als er etwas später als gewöhnlich in das Frühstückszimmer kam, fand er dort eine rege Betriebsamkeit vor.
Sein BruderTheo,Thisbes Zwillingsbruder, befand sich nun seit fast einem halben Jahr wieder zu Hause und begann anscheinend langsam unruhig zu werden, denn er war früh aufgestanden und hatte bereits einen Ausritt im Park gemacht. Nun setzte er sich gerade an den Frühstückstisch.
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